Daß sprachliche Präzision sachlogisches Denken fördert und umgekehrt eine folgerichtige Analyse zu prägnanter Ausdrucksweise führt, ist eine Binsenweisheit. Wer also ein Problem klar durchdacht hat, weiß sich unmißverständlich auszudrücken bzw. wer präzise formuliert, läßt vermuten, daß ihm die Zusammenhänge klar sind, und er in der Lage ist, zu einer Lösung beizutragen. Das Auffällige an der deutschen Integrationsdebatte ist jedoch, daß sehr häufig mit einem Wust schwammiger, oft widersprüchlicher, ja sogar sinnentstellender Begriffe argumentiert wird, was den Eindruck vermittelt, daß den Diskutanten zwar bewußt ist, daß Deutschland vor einem Problem steht, sie sich aber über dessen Charakteristik und das anzustrebende Lösungsziel noch keine Klarheit verschafft haben.
Schon der Begriff ethnische Minderheit wird in den diversen, geradezu diarrhöhaft ausgestrahlten Talkshows leichtfertig hin- und her geworfen. Sorgsam gestylte Moderatorinnen stellen dümmliche Fragen und glotzen mit fragender Miene in die Runde. Politiker, Schauspieler und andere Zeitgenossen, die für bedeutsam gehalten werden, plappern munter drauflos, verbreiten abenteuerliche Thesen und fuchteln aufgeregt mit ihren Armen herum, ohne zu bedenken, daß es sich um einen äußerst sensiblen, relativ jungen und insbesondere europäisch relevanten Begriff handelt und beispielsweise in zentralasiatischen oder einigen muslimischen multiethnischen Gesellschaften, wo andere Gesellungskriterien gelten als in Europa, eine untergeordnete Rolle spielt. So amüsant das Gewäsch auch sein mag, so bringt es keinerlei Erkenntnisse, sondern ist allenfalls überflüssig, wenn nicht gar ärgerlich.
Der europäisch geprägte Begriff Minderheit, ist mit dem Aufkommen des Nationalstaatsgedankens erst im 19. Jh. entstanden. Am Beispiel der Geschichte der Siebenbürger Sachsen läßt sich dieser Sachverhalt sehr anschaulich beschreiben. Dieser kleine deutschsprachige Neustamm, der sich mit der Ansiedlung innerhalb des Karpatenbogens beginnend mit dem 12. Jh. formierte, hat sich trotz der geringen Kopfzahl über mehrere Jahrhunderte nie als Minderheit betrachtet und wurde auch von den anderen zahlenmäßig stärkeren Ethnien der Region nie als solche empfunden. Die Siebenbürger Sachsen waren vielmehr dank ihrer Privilegien und ihrer Selbstverwaltungsorgane in der ständischen Gesamtgesellschaft eine bedeutende, die Staatsfinanzen betreffend sogar die bedeutendste Säule des Staates, demgegenüber sie stets loyal waren, zumal sie eine gefestigte Autochthonie aufwiesen. Trotz erheblicher Konflikte in der wechselvollen Geschichte ist ihre staatstragende Rolle nicht infrage gestellt worden. Als dann allerdings insbesondere nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 die Sachsen ihre ständische Stellung einbüßten und der ungarische Staat sich eine aggressive Ideologie der Nationalstaatlichkeit zu eigen machte, wurden sie erstmals marginalisiert und sanken zu einer nun auch so benannten „nationalen Minderheit“ herab und sahen sich einem massiven Assimilierungsdruck ausgesetzt, demgegenüber sie aber im Großen und Ganzen standhalten konnten. Es war dies die Zeit, als sich die Siebenbürger Sachsen verstärkt an das aufstrebende Deutschland anzulehnen begannen, woher sie Stärkung erhofften. In Deutschland selbst wurde das „Auslandsdeutschtum“ entdeckt und es entstand eine Vielzahl von Hilfsorganisationen, die sich zum Ziel setzten, die „auslandsdeutschen Sprachinseln“ im Ringen um Selbstbehauptung zu unterstützen. Die Siebenbürger Sachsen ihrerseits mutierten so zu „Deutschen“, also zu einer Art Vorstufe als nun bewußte Angehörige einer großen Kulturnation, nicht Staatsnation. Auf dieser Vorstufe bauten die Nationalsozialisten auf, als sie auch die Siebenbürger Sachsen als fünfte Kolonne mißbrauchten, was verheerende Konsequenzen nach sich zog. Nach der Ur- Katastrophe des Ersten Weltkriegs entstanden auf den Trümmern der bis dahin dynastisch legitimierten Großreiche die bizarren „Nationalstaaten“, in Wirklichkeit jedoch in ihrer Gesamtheit Vielvölkerstaaten und der Begriff Minderheit setzte sich endgültig durch, denn diese Staaten verstanden sich als Nationalstaaten, deren Idealtypus eine einzige Ethnie beherbergt. Die Realität lief diesem Idealtypus jedoch diametral entgegen und einige der namensgebenden „Staatsnationen“ erlagen bis in die jüngste Vergangenheit hinein unterschiedlich stark der Versuchung, sich dem idealtypischen Nationalstaat auf Kosten der nun zahlreichen autochthonen „Minderheiten“ anzunähern unter Anwendung einer Reihe von Methoden: Assimilierung, Verdrängung und Umsiedlung, Vertreibung oder gar Vernichtung. Die Konstrukteure des Völkerbundes und die Schöpfer späterer einschlägiger Regelwerke hatten zwar richtig erkannt, daß die Minderheiten schutzbedürftig waren und sind, haben jedoch nur unzureichende Sanktionsinstrumente schaffen können, sodaß sie immer noch in ihrer Existenz gefährdet sind, wie wir bis in die Gegenwart konstatieren müssen. Das Phänomen Minderheit, ist demnach ein äußerst sensibler Bereich und sollte mit Bedacht und großer Sorgfalt diskutiert werden.
Wie schlampig jedoch diskutiert wird, erkennen wir an der abstrusen Begrifflichkeit, die in Deutschland mittlerweile geradezu groteske Formen angenommen hat. Jahrzehntelang waren die politischen Eliten bemüht, die stetig wachsende Immigration in einem sonderbaren Akt der Realitätsverweigerung zu ignorieren und die sich anbahnenden Probleme zu bagatellisieren. Das Resultat sind 15 Millionen von Menschen unterschiedlicher Herkunft, in verschiedenen kulturellen Milieus verwurzelt und mit sehr differenzierten Erwartungen an ihren Lebensvollzug in Deutschland. Alle diese Menschen werden nun in ein Sprachmonstrum gestopft: Menschen mit Migrationshintergrund! Damit entzieht man sie der genauen Benennung. Alle kommen in diesen riesigen Kessel und werden dort vermanscht, Flüchtlinge, Asylanten und Asylsuchende, ehemalige Gastarbeiter, Früh-, Spät- und andere Aussiedler, Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländischer Herkunft, was immer das heißen mag, Kriegsflüchtlinge,Wirtschaftsflüchtlinge usw. (einige dieser Bezeichnungen haben die Sprachinquisitoren der politcal correctness mittlerweile getilgt). Jedermann faselt pauschal von Migrantinnen und Migranten bar jeder Kenntnis der vielfältigen Hintergründe, wohl in der Befürchtung man könnte jemanden bei präziser Benennung eventuell kränken. Wenn gelegentlich dann doch konkreter formuliert wird, werden lächerliche Sprachchimären angeboten wie Deutschtürke, Deutschafghane, Deutschlibanese oder Deutschrumäne. Es bleibt unklar, ob der Deutschtürke tatsächlich ein Türke oder ein Kurde, der Deutschafghane ein Paschtune, Hazara, Tadschike oder ein Angehöriger einer anderen der vielen Ethnien (Afghanen als ethnische Gruppe gibt es nicht, wohl aber als Hunderasse, und die kann ja wohl nicht gemeint sein. Es handelt sich vielmehr hierbei um einen Begriff der Staatsbürgerschaft), der Deutschlibanese ein Druse, Araber oder Aramäer ist. Was beispielsweise ist um Gottes Willen ein Deutschrumäne? Ist es ein ethnischer Rumäne, sei es aus Rumänien selbst, sei es aus der Voivodina oder aus der bulgarischen Dubrudscha, der die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt hat? Oder ist es ein nach Deutschland ausgewanderter Siebenbürger Sachse? Oder ist es schließlich ein Siebenbürger Sachse, der nicht ausgewandert ist und weiter als rumänischer Staatsbürger in Rumänien lebt? Was ist ein Eskimo, der die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hat, ein Deutschdäne? Ist ein Elsässer ein Deutschfranzose, gleichgültig ob er deutscher Staatsbürger ist oder nicht? Und was ist ein Deutschitaliener? Ist er ein Südtiroler aus dem Pustertal, oder ein sizilianischer Pizzabäcker in Bottrop, der deutscher Staatsbürger geworden ist? Was machen unsere Sprachakrobaten mit den Deutschschweizern? Verleihen sie Ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft? Ethnische und staatsbürgerliche Begriffe werden schlampig und widersprüchlich flux und unreflektiert zusmmengefügt. Komplett irrsinnig wird diese Begrifflichkeit, wenn man berücksichtigt, daß der deutsche Staat ja erwartet, daß die Personen, von denen hier die Rede ist, bei Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft ihre bisherige aufgeben, also die türkische, libanesische, afghanische, rumänische usw. Es fehlt jegliche stringente Begriffssystematik.
Wie dem auch sei! Sie alle, die in deutschen Landen Anker geworfen haben, gilt es jetzt in aller Hast zu integrieren, was immer das heißen mag! Ein allgemein akzeptiertes Konzept gibt es zwar immer noch nicht, aber es muß etwas geschehen. Eine eindeutige Auslegung des Begriffes Integration ist auch nicht zu erkennen, denn in aller Regel wird das Wort Integration als Synonym von Assimilierung verstanden, was es ja gerade nicht ist. So werden in diesem Sinne nicht selten die Polen im Ruhrgebiet als Beispiel einer bestens gelungenen Integration angepriesen, wobei es sich aber bei ihnen eindeutig um eine Assimilierung handelt. Wenn man eine Assimilierung will, dann soll man das Vorhaben auch so benennen. Wenn man sich jedoch mit allerlei Hilfen, wie es die Bundesregierung tut, für den Weiterbestand des deutschen Volkstums im Ausland und dessen ethnische, sprachliche und kulturelle Entfaltung einsetzt, sollte man eine differenziertere Betrachtungsweise erwarten. Ja, ich halte es sogar für dringend geboten, sich sehr schnell Gedanken zu machen, ob der türkische Ministerpräsident mit seiner Forderung, in Deutschland türkischsprachige Kultur- und Bildungseinrichtungen zu schaffen, die für ziemliche Entrüstung gesorgt hat, nicht doch ein legitimes Anliegen vorgetragen hat. Mit welchem Recht können wir den Türken in Deutschland das, was wir mit Entschiedenheit für das deutsche Volkstum im Ausland fordern, verwehren? Sind wir vielleicht auch vom Virus der Xenophobie befallen? Ich hoffe nicht! Freilich müssen dabei noch viele Fragen geklärt werden: Loyalitätsfragen, Fragen der Autochthonie und Beherrschung der Staatssprache, Transparenz der Gesellung, religiöse Fragen wie die Bedeutung der Scharia und andere. Die Bundesrepublik Deutschland wird mit Sicherheit früher oder später nicht um dieses Thema herumkommen. Also, je früher desto besser! Was spricht dagegen, solchen Gruppen, wenn alle Fragen geklärt sind, langfristig den ethnischen Minderheitenstatus mit allen Rechten und Pflichten, wie wir es für die deutschen Gemeinschaften im Ausland hartnäckig einfordern, zuzugestehen. Andere Länder, wie z. B. Rumänien, haben uns das vorgemacht. Aber auch in Deutschland funktioniert es ja bereits bei den Dänen in Nordschleswig und den Sorben hervorragend. Muttersprachliche und eigenkulturelle Gesellungen wird es auf jeden Fall geben. Das liegt in der Natur des Menschen. Warum soll das dann nicht auf legaler und dadurch auch auf transparenter Grundlage geschehen können. Das öffentliche Nachdenken in dieser Richtung und die Inaussichtstellung des Minderheitenstatus würde m. E. zudem nicht nur die Debatte entkrampfen, sondern auch ein treffliches Argument gegen das Entstehen oder den weiteren Ausbau undurchsichtiger und illoyaler Parallelgesellschaften darstellen. Schließlich würden dadurch die ethnischen Kriterien auch stärker zum Vorschein kommen und die vorausgegangenen Staatsbürgerschaften, die nicht selten Loyalitätsprobleme aufgeworfen haben, in den Hintergrund rücken, und so z. T. aggressiv nationalistischen Herkunftsstaaten eine unerwünschte Einflußnahme erschweren.
Auf jeden Fall aber muß zunächst sehr dringend mit dem geradezu lächerlichen sprachlichen Chaos aufgeräumt und insbesondere unmißverständlich definiert werden, was man letztendlich unter Integration verstanden wissen will. Assimilierung kann es nicht sein, denn diese kann wie im Fall der Polen im Ruhrgebiet nur auf freiwilliger Basis geschehen, d.h. Einzelne oder Gruppen müssen selbst entscheiden können, ob sie im deutschen Volk aufgehen wollen oder nicht. Eine abgenötigte oder gar erzwungene Assimilierung stellt einen Verstoß gegen die elementaren Menschenrechte dar.
Dr. Karl Scheerer