Dieser Text erscheint auch in meinem Buch „Rückblicke“.
Als ich kürzlich wieder einmal in Dieter Kühns „Der Parzival des Wolfram von Eschenbach“ blätterte, kam mir nach längerer Zeit mein zeitweiliger Weggefährte Wolfram von F. in den Sinn. Wir hatten uns im Sommersemester 1964 in den ersten Tagen unseres Studienbeginns an der Universität Mainz in einer Vorlesung von Hans Ulrich Instinsky über römische Geschichte kennengelernt. Wolfram konnte wohl sehr gut Latein, denn seine Notizen waren gespickt mit lateinischen Begriffen. Wir hatten beide das Studium der Germanistik, Geschichte und Politologie begonnen, wobei Wolfram zusätzlich einen Intensivkurs in Russisch belegt hatte. Nach der Vorlesung gingen wir in die „Schwemme“, ein Lokal unterhalb der Universitätsmensa, wo sich täglich oft schon am Vormittag eine bunte Mischung des sogenannten „Universitätsvölkchens“ ein Stelldichein gab. Auffällig waren die bärtigen „Existentialisten“, deren Idole Jean Paul Sartre und Albert Camus waren und bei denen unklar war, ob sie überhaupt studierten, oder nur „philosophierten“. Es gab aber auch Korporationsstudenten, die in ständigem Streit mit den Existentialisten lagen, und natürlich viele Studienanfänger, wie wir es waren. Auch in der Folgezeit diente uns die Schwemme als Treffpunkt in den Vorlesungspausen, und dort lernten wir uns näher kennen.
Ich wohnte zu dem Zeitpunkt noch in meinem Elternhaus unweit der Universität. Wolfram war im Oldenburgischen aufgewachsen und wohnte bei entfernten Verwandten in Mainz-Kastel. Sein Vater war Baltendeutscher und war seit Mitte der 30er Jahre enger Mitarbeiter von Admiral Wilhelm Franz Canaris in der „Abwehr“ gewesen. Nach dessen Verhaftung wurde er kaltgestellt, entging jedoch einer Verhaftung. Nach dem Krieg versuchten die Amerikaner, ihn für die Organisation Gehlen, dem späteren Bundesnachrichtendienst, anzuwerben, was er jedoch ablehnte. Er zog es vor, sich als Lokalredakteur einer oldenburgischen Provinzzeitung eine bescheidene Existenz aufzubauen. Von Wolframs Mutter hatte er sich gleich nach dem Kriege getrennt. Sie stammte aus Nürnberg und war im Dunstkreis des Nürnberger Gauleiters Julius Streicher aufgewachsen und hatte in ihrer Jugend auch begeistert eine Zeit lang an Streichers antisemitischer Hetzzeitschrift „Der Stürmer“ mitgearbeitet. Später machte sie als klassische „Arierin“, sie war groß, blond und blauäugig gewesen, eine beachtliche Karriere in der NS-Frauenschaft. Adolf Hitler war für sie der Messias des deutschen Volkes, und von dieser Bewunderung hat sie auch nach dem Kriege nicht abgelassen. Sie blieb vielmehr ihrer nationalsozialistischen Überzeugung fanatisch treu und bedauerte sogar, dass die Ausrottung der Juden nicht vollends gelungen sei. Dies war der Grund, dass sich Wolframs Vater von ihr trennte und jeglichen Kontakt zu ihr abbrach. Wolfram und seine ältere Schwester wuchsen beim Vater auf und haben ihre Mutter nie mehr gesehen. Diese legte selbst auch keinen Wert mehr auf ihre Familie und tummelte sich nur noch in allerlei rechtsradikalen Kreisen. Sie war Mitbegründerin der Sozialistischen Reichspartei und verpasste nur um Haaresbreite den Einzug in das niedersächsische Landesparlament. Nach dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei im Jahre 1952 arbeitete sie für die HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS) und war Mitglied weiterer zum Teil illegaler Nachfolgegruppen und -grüppchen der NSDAP. Später wurde sie zur Mitbegründerin der NPD, stand aber in heftiger Opposition zu dem Vorsitzenden Adolf von Thadden, der ihr zu lasch und zu gemäßigt war. Dies hatte Wolfram aus der Presse erfahren.
Im zweiten Semester wechselten wir beide den Hochschulort. Ich ging nach Innsbruck, Wolfram nach München. Wir blieben jedoch in Kontakt und trafen uns auch gelegentlich, mal in Innsbruck, mal in München. Unabhängig voneinander hatten wir in dieser Zeit damit begonnen, unseren Studienschwerpunkt im Fach Geschichte auf Ost- und Südosteuropäische Geschichte zu legen. Wolfram lernte daher, konsequent wie er war, intensiv Serbokroatisch. Russisch sprach er mittlerweile fließend. Alle beide kehrten wir aus unterschiedlichen Gründen nach einem Jahr an die Mainzer Universität zurück und trachteten danach, möglichst die selben Lehrveranstaltungen zu besuchen. Wir beschäftigten uns u.a. mit Ivan Grozny (Iwan dem Schrecklichen), den polnischen Teilungen, der Geschichte des Deutschen Ordens und natürlich mit der Geschichte Südosteuropas. Wir wurden beide, weil wir gut formulieren konnten, als Protokollanten herangezogen, was zwar viel Arbeit war, uns aber in späteren Prüfungen auch viel geholfen hat, da wir bei den Prüfungsvorbereitungen auf diese Protokolle zurückgreifen konnten. Wolframs Texte waren besser als meine, präzise, stringent und stilistisch auf hohem Niveau. Im Fach Politologie legten wir den Schwerpunkt auf politische Theorien und hier vor allem auf die Varianten des Marxismus. Wolfram war der festen Überzeugung, dass der Kommunismus auf Dauer nicht würde bestehen können. Dafür fehle ihm der Sinn für eine realistische Anthropologie: „Die Kommunisten gehen von einem Menschen aus, den es nicht gibt. Daran wird ihr System zugrunde gehen. Sowie ihre Gewalt erschlafft, oder ihre Wirtschaft scheitert und sie wird scheitern, werden sich die im Untergrund brodelnden Nationalismen rühren und das Kunstgebäude zum Einsturz bringen. Was wir von sogenannten Ostexperten lesen und hören, ist nur die aktuelle Oberfläche, also die Analyse der Propaganda. Ihre Diagnosen und Prognosen sind daher fehlerhaft und irreführend und können einer realistischen und sachgerechten „Ostpolitik“ kaum von Nutzen sein. Wir müssen in tieferen Schichten wühlen. Dort spielt die Musik. Wer diese Kunst beherrscht, kann realistisch prognostizieren. Carl Gustav Ströhm ist so einer. Ich habe ihn bei Prof. Stadtmüller in München kennengelernt. Er ist der festen Überzeugung, dass zuerst Jugoslawien explodieren wird, dann gleich danach die ‚ruhmreiche Sowjetunion‘ und ihr Glacis“. „Wann wird das sein?“ „Wohl Ende der 80er Jahre, und da will ich dabei sein. Deshalb habe ich Russisch und Serbokroatisch gelernt.“ Seine Gewissheiten habe ich damals nicht geteilt, erinnerte mich aber in der zweiten Hälfte der 80er Jahre an dieses Gespräch, als die ersten Risse in Jugoslawien und kurz danach in der Sowjetunion sichtbar wurden.
Die sogenannte Studentenbewegung, die damals die deutschen Universitäten zu erschüttern begann und die sich die verschiedensten Marxismusvarianten, gespickt mit politischem Sektierertum und Antiamerikanismus, auf die Fahnen schrieb, lehnten wir beide ab. „Das sind pubertäre Fürze“, war Wolframs lakonischer Kommentar. „Die meisten werden sehr rasch in den bürgerlichen Schoß zurückkehren und nach einer gesicherten Beamtenpension streben. Einige allerdings werden sich selbst radikalisieren und eine blutige Spur hinterlassen. Das sind Desperados, ein Menschentyp also, den es immer schon gegeben hat.“ Er sollte recht behalten.
Im Fach Germanistik, das für uns nicht mehr im Vordergrund stand, trachteten wir danach, möglichst rasch alle Scheine für die Zwischenprüfung (Gotisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Literaturgeschichte) zu erwerben. Dies war mehr oder weniger zur Pflichtübung geworden. In einem Seminar zu Eschenbachs Epos „Parzival“ langweilten wir uns beinahe zu Tode. Plötzlich hatte Wolfram eine Idee: „Was hältst Du davon, wenn wir als Seminararbeit ein Filmdrehbuch ‚Parzival im wilden Westen‘ schreiben? Dem Prof. wird es sicher gefallen.“ Es war gerade die Zeit, als die sogenannten Film-Remakes en vogue waren. In einem Mainzer „Experimentier-Kino“, in dem regelmäßig besondere Filme gezeigt und diskutiert wurden, hatten wir vor einiger Zeit den japanischen Klassiker „Die sieben Samurai“ und die Westernversion „Die glorreichen Sieben“ mit Yul Brynner, Horst Buchholz, Steve MacQueen, Eli Wallach, Charles Bronson und anderen damals bekannten Schauspielern gesehen und uns köstlich amüsiert. Jetzt wollten wir also ein mittelalterliches Epos in den wilden Westen verlegen. Der Professor war zwar skeptisch, ließ uns aber gewähren. König Arthur wurde zum Rancher Big Arthur, Lanzelot zum Cowboy Lancy, Parzival, der Gralssucher, zu Percy, der immer auf der Suche nach El Dorado war. Jedem Ritter der Tafelrunde wurde ein Stetson auf den Kopf gesetzt, ein Colt umgeschnallt und ein alliterierter Cowboynamen gegeben. Die Königin Condwiramour, die Parzival von feindlichen Belagerern befreit und dann geheiratet hatte, wurde zu einer Apachensquaw und erhielt den Namen Lieblicher Tau. Ihr Vater, der Häuptling eines Pueblo-Dorfes, war kürzlich verstorben und hatte ihr die Verantwortung für den Stamm hinterlassen, der jetzt von Komantschen angegriffen wurde. Percy verjagte natürlich die Komantschen und nahm Lieblicher Tau zur Frau. Kontroversen hatten wir über die Frage, welche Rolle der zweite Protagonist des Epos‘, Gawan, in unserem Drehbuch spielen sollte. Ich plädierte dafür, ihn einfach wegzulassen, um die Handlung nicht zu verkomplizieren. Wolfram bestand darauf, dass er seinen gebührenden Platz in der Handlung erhalten solle. So wurden die Abenteuer des Schwerenöters und jetzt zum Revolverhelden Gave mutierten Gawan ins Drehbuch eingefügt. Percy fand schließlich nach mehreren Zweikämpfen und Abenteuern El Dorado, ein bestens verborgener und behüteter Indianergoldschatz, ließ ihn jedoch unberührt und lebte bis ans Ende seiner Tage glücklich mit Lieblicher Tau, die ihm zwei Söhne schenkte: Lohan (Lohengrin in der Sage), der den Schatz bewachte, und Kardy (Kardeiz in der Sage), der zum Häuptling der Apachen gewählt wurde. Das Drehbuch wurde recht lang, da wir den Ehrgeiz hatten, möglichst alle Episoden der mittelalterlichen Vorlage in Westernmanier zu verarbeiten. Der eher humorlose und trockene Professor fand diese sicher ungewöhnliche Seminararbeit köstlich und sagte, er habe sich selten so amüsiert. Er attestierte uns dann auch: „So, wie Sie das Epos umgesetzt haben, zeigt, dass Sie es verstanden haben.“
Nach einiger Zeit trennten sich unsere Wege wieder. Ich hatte mittlerweile eine Dissertation in Angriff genommen und versprach mir in Wien bessere Forschungsmöglichkeiten. Wolfram ging zurück nach München und wurde Doktorand bei Georg Stadtmüller, dem damals berühmtesten Südosteuropaforscher. Später ging ich nach Bukarest, Wolfram nach Belgrad. Wir hielten zwar noch Kontakt, aber die Zeitabstände wurden immer länger. Wir waren beide in unsere eigenen Welten eingetaucht.
Jahre später, ich war frisch verheiratet und bereitete mich gerade auf das Rigorosum vor, klingelte es an unserer Wohnungstür in Mainz-Bretzenheim. Als ich öffnete lachte mich Wolfram an und sagte: „Percy, alter Kamerad, was treibst Du so?“ „Gawan, gibt es Dich noch?“ „Ich habe letzte Woche promoviert und bin nun gekommen, Abschied zu nehmen. Wir werden uns so bald nicht wieder sehen.“ „Wieso? Was hast Du vor?“ „Nächste Woche schlüpfe ich in eine andere Haut und niemand wird mich mehr unter meinem Namen finden.“ „War etwa Diethelm K. auch bei Dir? Bei mir war er vor einem Monat und wollte mich für den BND anwerben. Ich habe abgesagt. Ich bin nicht der Typ für so etwas.“ K. war ein Beamter des BND und hatte wohl die Aufgabe, junge Hochschulabsolventen mit guten bis sehr guten Kenntnissen über Ost- und Südosteuropa und mit einschlägigen Sprachkenntnissen für den Dienst anzuwerben. Wolfram sah mich zunächst verblüfft an und sagte dann lachend: „Recht hast Du. Jeder Mensch ist anders. Du bist eher der bürgerliche Typ. Ich will aber in tieferen Schichten graben und ich weiß auch schon wo. Weshalb habe ich denn Russisch und Serbokroatisch gelernt? Eins sollst Du aber wissen: Es war sehr schön mit Dir.“ Wir plauderten noch eine Zeit lang. Dann sagte er sehr ernst: „So, es ist Zeit. Lass uns kein Drama machen! Wenn meine Zeit des Grabens vorbei ist, besuche ich Dich wieder.“ „Ich weiß ja gar nicht, wo ich dann sein werde.“ „Mein lieber Freund, ich werde Dich finden, wo immer Du dann sein magst. ‚Gawan‘ sei unser Code-Wort für alle Fälle.“ Dann stand er auf und ging wortlos zur Tür hinaus.
Im Jahre 2012 lud mich ein ehemaliger Bundeswehroffizier, mit dem ich im Rahmen der Inneren Führung der 12. Panzerdivision jahrelang zusammengearbeitet hatte, der aber dann zum BND gegangen war und über 20 Jahre eine andere Identität angenommen hatte, zu einem Wiedersehenstreffen ein. Er war mittlerweile pensioniert und hatte seine bürgerliche Identität wieder angenommen. Die Wiedersehensfreude war groß und wir plauderten über vergangene gemeinsame Zeiten. Bezüglich seiner Einsatzzeit beim BND unterlag er immer noch der Schweigepflicht, erzählte aber dann doch unverfängliche Episoden. Lange Zeit war er in Afghanistan im Einsatz gewesen und ab 1992 in Bosnien und im Kosovo. Ich fragte ihn, ob ihm dabei vielleicht Wolfram über den Weg gelaufen sei, indem ich ihn genau beschrieb. Er dachte lange nach und sagte dann, im Kosovo sei einer gewesen, auf den die Beschreibung passen könnte. Den Namen wisse er nicht mehr. Das sei aber auch gleichgültig, denn der damalige Name sei ja ohnehin nicht der ursprüngliche gewesen. Alle hätten ihn Gawan genannt, ein Spitzname, den er wohl selbst gestreut habe. „Das ist er! Das weiß ich.“ Ich erzählte ihm von unserem Filmdrehbuch und seinem Abschiedsbesuch bei mir. Dann fing er an zu erzählen. „Gawan“ sei der einzige Zivilist in der Crew auf dem Balkan gewesen, habe sich aber den militärischen Gepflogenheiten voll unterworfen. Darüber hinaus hätten viele Gerüchte über ihn die Runde gemacht. Beispielsweise sei er noch zur Zeit der sowjetischen Besetzung in Afghanistan im Einsatz gewesen, allerdings im Auftrag der CIA, die damals das Monopol für derlei Einsätze dort gehabt habe. Möglicherweise habe ihn der BND der CIA ausgeliehen. Er sei dann in sowjetische Gefangenschaft geraten und beim Abzug der sowjetischen Truppen vom Oberkommandierenden Alexander Lebed höchstpersönlich in Freiheit gesetzt worden. Auf dem Balkan sei er 1990 aufgetaucht, habe aber immer eine Sonderrolle gespielt, da er nicht zuletzt wegen seiner exzellenten Sprachkenntnisse über beste Informationen verfügt habe. Nicht selten sei er dann auch als einziger zur Sonderberichterstattung in die Zentrale gerufen worden. Seine Briefings und Rebriefings vor Ort seien hervorragend und sehr klar gewesen. Einer seiner Standardsätze sei gewesen: „Man muß in tieferen Schichten wühlen. Die Oberfläche ist irreführend.“ Man habe aber immer den Eindruck gehabt, dass er nicht alle seine Informationen preisgegeben habe. 1996 sei er mit seinem Geländefahrzeug (er sei ein Einzelgänger gewesen und meistens allein gefahren, was nicht den gängigen Regeln entsprochen habe) im Kosovo auf eine Landmine gefahren und samt Fahrzeug in die Luft geflogen. Zwar habe es eine strenge Nachrichtensperre gegeben, aber dennoch habe das Gerücht kursiert, der damalige UCK-Kommandeur Hasim Thaci, der später Premierminister des Kosovo wurde, habe persönlich dahinter gesteckt, weil Gawan kompromittierende Informationen über ihn besessen habe. Die UCK war damals als paramilitärische albanische und rigoros antiserbische Organisation im Aufbau begriffen und verübte unterhalb der „patriotischen“ Oberfläche allerhand Greuel. Darüber hinaus soll sie sich mit Drogen- und Organhandel finanziert haben. Die Nato benutzte sie dennoch später als verbündete Kampftruppe. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in den Haag stellte ab 2000 und dann wieder ab 2011 zwar mehrere ehemalige UCK-Kommandeure unter Anklage, konnte ihnen aber nichts nachweisen, und alles verlief im Sande.
In welchen Schichten hat „Gawan“ da bloß herumgestochert? Thaci wird sicher nichts davon preisgeben. Und so wird wohl alles im Dunkeln bleiben, wie vieles aus diesem unseligen Krieg.
Lieber Wolfram, Adieu!!!!!!!!