Der König von Indien

Auf dem Wiener Westbahnhof war es sehr kalt. „Bitte eensteegen. Der Oosteendeexpress foart gleech ob.“ Ich saß allein im Abteil. Die Stimme im Lautsprecher erinnerte mich an Apfelstrudel mit viel Puderzucker. Seit ich denken konnte, fesselte mich die Kunst meiner Tante, den Apfelstrudelteig so lange zu dehnen, zu ziehen, bis er hauchdünn den ganzen Tisch bedeckte. „Das Wetter ist schlleecht, oober deenken´s droon, heeit is Weenochten, Guete Foart!“ Im Abteil war es schön warm. „Noch frei?“ „Bitte schön!“ „Spassiba! Kössönäm seepän! Mulzumesk! Habe die Ehre!“ „Siväschän!“ „“Seid Ihr Habsburrgerr?“ „Oh, je! Schwer zu sagen. Ich bin Siebenbürger.“ „Krrutzitürrken! Iberrall diese Sachsen!“ Der Mann schüttelte seine langen schwarzen Haare und ließ sich auf den Sitz fallen. Den braunen Geigenkasten legte er neben sich. Aus seiner eng anliegenden violetten Weste holte er eine flache Flasche. „Frroche Weihnachten!“ Es war ein scharfer Barack und ich mußte husten. „Ha! Ha! Gutt! Serr gutt!“ Als der Zug durch St. Pölten brauste, war die Flasche leer. Der Mann rülpste und steckte seine Pfeife in die Westentasche. „Gutt! Gutt!“ Kurz danach schlief er ein. Vor der Abfahrt hatte ich mir in einem Antiquariat Egon Hajeks Lebensbeschreibung von Nikolaus Lenau gekauft.

Drei Zigeuner fand ich einmal
Liegen an einer Weide,
Als mein Fuhrwerk mit müder Qual
Schlich durch sandige Heide.

Hielt der eine für sich allein
In den Händen die Fiedel,
Spielte, umglüht vom Abendschein,
Sich ein feuriges Liedel.

Hielt der zweite die Pfeif´ im Mund,
Blickte nach seinem Rauche,
Froh, als ob er vom Erdenrund
Nichts zum Glücke mehr brauche.

Und der dritte behaglich schlief,
Und sein Cimbal am Baum hing,
Über die Seiten der Windhauch lief,
Über sein Herz ein Traum ging.

An den Kleidern trugen die drei
Löcher und bunte Flicken,
Aber sie boten trotzig frei
Spott den Erdengeschicken.

Dreifach haben sie mir gezeigt,
Wenn das Leben uns nachtet,
Wie man´s verraucht, verschläft, vergeigt,
Und es dreimal verachtet.

Nach den Zigeunern lang noch schaun
Mußt´ ich im Weiterfahren,
Nach den Gesichtern, dunkelbraun,
Den schwarzlockigen Haaren.

Der Banater Schwabe Nilolaus Lenau endete tragisch. Er hatte es nicht verstanden, sich in dieser Welt einzurichten. Seine Zigeunerlieder aber werden heute noch gesungen.

Der Mann gegenüber lächelte im Schlaf. Sein weißes Gebiß war tadellos. „Linz an der Donau. Der Zug hat 10 Minuten Aufenthalt.“ Rattattata, rattattata. Es war dunkel geworden. Rattattata, rattattata, rattattata………… Der Schnaps hatte mich müde gemacht. Plötzlich stand ich auf der Empore hinter der Orgel in der Kirche von Nadesch, meinem Heimatort. Ratsch, ratsch, pffff! Ratsch, ratsch, pffff! Ratsch, ratsch, pffff! Seiler Mischi trat ernst den Blasebalg. „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“ Die Konfirmanden übertönten mit ihren Stimmen die Orgel. Es roch nach Kerzenrauch, wie immer am Heiligen Abend. „….Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib; laß fahren dahin, sie habens kein Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben“. Die Gemeinde erhob sich. „Der Herr segne Euch und behüte Euch! Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Euch und sei Euch gnädig! Der Herr erhebe sein Angesicht auf Euch und gebe Euch seinen Frieden! Amen“. Der Organist Wellmann klappte die Orgel zu. Die Gemeinde strömte aus der Kirche, zuerst die Kinder, dann die Konfirmanden. Es folgten die Unverheirateten, dann die Frauen und schließlich die Männer, alle dem Alter nach. „Weißt du schon, was du bekommst?“ Mischi wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. Er hatte stark geschwitzt. „Ein Taschenmesser mit zwei Schneiden. Es ist aus Deutschland und ganz rot. Ich habe gesehen, wie meine Mutter es eingepackt hat.“ „Ich bekomme auch ein Taschenmesser, aber ich habe es noch nicht gesehen“. „Kommst Du nachher zu mir? Ich will dein Messer sehen.“ Bei uns zu Hause brannten die Petroleumlampen. Es roch nach Bratwurst und Kraut. „Die Bescherung gibt es erst in einer Stunde. Geht schnell austragen!“ In unserem Dorf war es üblich, daß am Heiligen Abend je eine rumänische und eine ungarische Familie von uns Sachsen mit Weihnachtsessen und Plätzchen beschenkt wurden. Dies entsprach jahrhundertealtem Brauch. Die größte Portion erhielten aber die „Hauszigeuner“. Mein Bruder ging zum Rumänen Simon, meine Schwester zum Ungarn Arpad und ich mußte wieder einmal zu den Zigeunern gehen. „Karli, bleib nicht zu lange! Das letzte Mal warst du voller Flöhe, als du wieder kamst. Und vergiß die Bibel nicht! Die Zigeuner wollen bestimmt wieder die Weihnachtsgeschichte hören“. Ich ging gerne zu den Zigeunern. Sie waren immer sehr freundlich zu mir. Der alte Russi, der angesehendste Zigeuner des Dorfes, war ja auch mein Freund. Er war mein Geigenlehrer, und das respektierten alle. Es war mittlerweile stockfinster geworden und ich fand die Hütte vom Vasile erst, als sein Hund, die Lilli, bellte. Ich stieß die Tür auf. „Komm rein Ungar-Karli! Wir warten schon auf dich.“ Valeria, eine dicke, immer kauende Fünfzigerin drückte mich an sich. Sie roch nach alten Kleidern und nach Tabak. In dem kleinen Raum saßen etwa ein Dutzend Erwachsene und Kinder auf dem Boden mit dem Rücken an der Wand. Zigeuner saßen immer so. Sie schliefen auch im Sitzen. Auf der Feuerstelle kochte ein Kessel mit Maisbrei. Der Rauch biß mich in die Augen. Die Kinder schüttelten mir die Hand und schauten neugierig in die Tasche. „Erzähle uns wieder Eure Weihnachtsgeschichte! Sie ist so schön!“ „Ihr versteht sie ja überhaupt nicht. Ich kann sie nur auf Deutsch.“ „Das macht nichts. Ein wenig verstehen wir bestimmt. Sie ist so schön!“ „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augusts ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger von Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Joseph aus Galliläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land in die Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger…….“ Der Raum war ganz still. Nur das Holz knackte im Feuer. Ich las vom Stern, den Hirten und vom Stall. „Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. …Ich muß jetzt gehen. Frohe Weihnachten und guten Appetit!“ „Du hast was vergessen. Wie war das mit den Königen aus Indien? Unser König war auch dabei!“ „Das ist eine andere Geschichte. Die steht nicht bei Lukas, die steht bei Matthäus.“ „Sie steht aber auch im heiligen Buch. Los, erzähle sie uns!“ „Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen die Weisen vom Morgenlande gen Jerusalem und sprachen: ’Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland, und sind gekommen, ihn anzubeten’. Da das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm das ganze Jerusalem; und ließ versammeln alle Hohepriester und Schriftgelehrten unter dem Volk und erforschte von ihnen, wo Christus sollte geboren werden. Und sie sagten ihm: ‚Zu Bethlehem im jüdischen Lande, denn also steht geschrieben durch den Propheten: Und du Bethlehem im jüdischen Lande bist mitnichten die kleinste unter den Fürsten Judas; denn aus dir soll mir kommen der Herzog, der über mein Volk Israel ein Herr sei’. Da berief Herodes die Weisen heimlich, und erlernte mit Fleiß von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, und wies sie gen Bethlehem und sprach: ‚Ziehet hin und forschet fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr’s findet, so sagt’s mir wieder, dass ich auch komme und es anbete.’ Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen hin, bis dass er kam und stand oben über, da das Kindlein war. Da sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut und gingen in das Haus, und fanden das Kindlein mit Maria, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf, und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und Gott befahl ihnen im Traum, daß sie sich nicht wieder zu Herodes lenken; und sie zogen durch einen anderen Weg wieder in ihr Land.“ „Unser König zog nach Indien.“ Vasile räusperte sich: „Er hat uns befohlen, das Kind zu suchen. Seither sind wir unterwegs. Ob wir es noch finden?“ „Grüble nicht so viel, Vasile! Du bist immer so miesepetrig. Los, Mihai, hol‘ Deine Geige und spiel!“ Der älteste Sohn zupfte schon an den Saiten. Er begann ganz langsam und wurde immer schneller. Die Melodien waren mir fremd. „Sing mir was vor, und ich spiele es nach!“

„So nimm denn meine Hände
und führe mich
bis an mein selig Ende
und ewiglich!“

„Das ist schön!“ Mihai spielte mehrstimmig und improvisierte die Melodie immer auf’s neue. Bald war der Choral nicht mehr zu erkennen und die Musik war ein Czardas geworden. „Jetzt kommt was schnelles.“ Er sprang auf und fiedelte die Ciocarlie (die Lerche). Der Bogen raste über die Saiten und die ganze Familie wippte im Takt. Auf einmal drehte sich alles. Mir wurde ganz schwindelig. Ich schlug die Augen auf und vor mir spielte der Mann mit der violetten Weste die Ciocarlie. Er lachte mich an: „Das ist Musik! Das kennen nurr wirr. Seit zweitausend Jahren iben wirr. Wirr suchen den Heiland, wie unser Kenig hatt befollen. Wirr wollen ihn anbetten mit Musik.“ Der Zug fuhr im Frankfurter Hauptbahnhof ein. Der Mann packte seine Geige ein, strich mir über die Haare und stand auf. „Chier muß ich aussteigen. Ich fahre zum Schnuckenack nach Unna. Wir wollen machen Musik Hui! Wirrd scheen!“
Nach Mainz war es nicht mehr weit, und ich kam rechtzeitig zur Christmette.

Karl Scheerer