In regelmäßigen Abständen droht Wladimir Putin gegenüber dem Westen mit dem Einsatz von Atomwaffen. Sind diese Drohungen ernst zu nehmen, oder dienen sie nur der Einschüchterung? anbei wird eine Meinung paraphrasiert.
Der Westen und die Angst vor dem Aggressor
Insbesondere in Deutschland ist die Angst, Präsident Putin könnte, wenn er zu sehr provoziert werde, taktische Atomwaffen zum Einsatz bringen, sehr stark ausgeprägt. Der Bundeskanzler Scholz hat seine zögerliche Haltung bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine auch damit begründet (keine Eskalation!). Die Drohung mit atomaren Waffen haben Putin und seine Marktschreier wie etwa Dimitrij Medwedew wiederholt ausgestoßen, um den Westen einzuschüchtern und von der Aufrüstung der Ukraine abzuhalten. Im Verlauf der Zeit haben diese Drohungen an Wirkung nachgelassen und flammen jetzt im Zusammenhang mit der überhitzten Debatte um die Lieferung der Marschflugkörper Tauris erneut auf. Die jüngste heftige Kontroverse zwischen dem französischen Präsidenten und dem deutsche Bundeskanzler ob der Westen sich die Option zum Einsatz eigener Truppen in der Ukraine unter bestimmten Voraussetzungen offen halten sollte oder nicht, hat natürlich Putin ermuntert, seine konfrontative Rhetorik zu verschärfen.
Der ehemalige russische Diplomat Boris Bodnarew hat zu diesem Sachverhalt in der in Moskau erscheinenden unabhängigen und englischsprachigen Internet-Zeitung „The Moscow Times“ in bemerkenswerter Weise Stellung bezogen:
„Ist Wladimir Putin bereit, taktische Atomwaffen einzusetzen?
In seiner Ansprache vor dem Föderationsrat kehrte Wladimir Putin nach einer kurzen Pause zur harschen Atomrhetorik zurück und drohte Europa. Am Tag zuvor erschien in der Financial Times ein Szenario für den Einsatz russischer Atomwaffen.
Die Veröffentlichung zitiert geheime Dokumente, die die Methoden und die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes taktischer Atomwaffen durch russische Truppen beschreiben. Die Dokumente sind alt, sie sprechen von einem hypothetischen Konflikt mit China. Allerdings wirft diese Veröffentlichung für uns neue Fragen auf.
Erstens wurde erneut bestätigt, dass der Einsatz taktischer Atomwaffen (TNW=Thermonukleare Waffen) von der derzeitigen militärischen und politischen Führung Russlands als völlig akzeptables Instrument zur Bekämpfung überlegener feindlicher Kräfte angesehen wird. Im Gegensatz zu strategischen Atomwaffen sind taktische Atomwaffen dazu bestimmt, militärische Ziele und feindliche Streitkräfte im Einsatzgebiet anzugreifen.
Zweitens unterstreicht es die Bereitschaft Moskaus, zu extremen Maßnahmen zu greifen, um seine strategischen Ziele zu erreichen, insbesondere in Situationen, in denen konventionelle Streitkräfte nicht in der Lage sind, militärischen Druck einzudämmen oder abzuwehren. Es ist nicht verwunderlich, dass das sogenannte „nukleare Tabu“, also das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene informelle Verständnis der Unzulässigkeit des Einsatzes von Atomwaffen auf dem Schlachtfeld, zunehmendem Druck seitens russischer „Falken“ ausgesetzt ist. Diese sind bereit, der heimtückischen NATO eine weitere Kuzkin-Mutter (in etwa „Stinkefinger“) zu zeigen.
Die Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen liegt ausschließlich in der Zuständigkeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dieser Ansatz erhöht sicherlich die Unvorhersehbarkeit der russischen Nuklearstrategie und erschwert die internationalen Bemühungen zur Eindämmung und Verhinderung eines nuklearen Konflikts.
Nach der Reaktion westlicher Experten zu urteilen, sind bestimmte Parameter und Schwellenbewertungen für den Einsatz taktischer Atomwaffen zwingend erforderlich. Es gilt als Axiom, dass die Zulässigkeit und Rechtfertigung des hypothetischen Einsatzes taktischer Atomwaffen beispielsweise während des Krieges in der Ukraine von Moskau im Einklang mit einer Doktrin und anderen formalisierten Richtlinien geprüft wird. Das stimmt natürlich leider nicht mehr .
Es ist wichtig zu verstehen, dass Wladimir Putin die Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen auf der Grundlage seiner eigenen Sicht der Lage und Einschätzung der Lage treffen wird und nicht auf der Grundlage offiziell genehmigter Dokumente und Anweisungen handelt. Die Erfahrung zeigt, dass Wladimir Putin sich häufig von Überlegungen leiten lässt, die weit von der Realität entfernt sind. Wir können daher die Möglichkeit des Einsatzes taktischer Atomwaffen in einer Situation nicht ausschließen, in der dies nach Meinung eines externen Beobachters vollständig hätte vermieden werden können.
Es ist unwahrscheinlich, dass Putin verlangen wird, ihm ein Exemplar der „Grundlagen der Staatspolitik im Bereich der nuklearen Abschreckung 2020“ zu bringen, dort nach den richtigen Gründen suchen, sie nicht finden und mit einem Seufzer sagen wird: ‚Das will ich zwar (Kiew oder Warschau angreifen), aber ich kann nicht. Die Lehre erlaubt es nicht.‘ Natürlich werden sich weder der Präsident noch die Militärführung im richtigen Moment nach irgendwelche doktrinären Leitlinien richten, sondern werden sich (ihrer Meinung nach) von rein praktischen Erwägungen leiten lassen.
Leider müssen wir annehmen, dass der Befehl zum Atomschlag bei der Armee wahrscheinlich keine Empörung hervorrufen wird, denn es gibt in den Reihen der russischen Streitkräfte wohl kaum noch besonnene Offiziere. Und die überwältigende Mehrheit derjenigen, die einen solchen Befehl erhalten, werden ihn nicht nur ohne Einwände, sondern auch mit unverhohlener Begeisterung ausführen – in den sowjetischen und russischen Armeen wurde seit jeher ein tiefer Hass auf den Westen gepflegt. Heute wird dies durch die gleiche Haltung gegenüber der Ukraine ergänzt.
All dies verdeutlicht die dringende Notwendigkeit, dass die NATO-Staaten eine angemessene Reaktion auf den möglichen Einsatz taktischer und insbesondere strategischer Atomwaffen durch Russland entwickeln. Gleichzeitig provoziert die Politik, eine solche Reaktion auf jede erdenkliche Weise zu vermeiden und die eigene Angst vor einer „Eskalation“ zu demonstrieren, den Angreifer zu neuen Bedrohungen. Appetit kommt bekanntlich mit dem Essen.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum diese Dokumente zu diesem Zeitpunkt von ungenannten Quellen der amerikanischen Presse vorgelegt wurden. Gibt es hier einen weiteren Versuch, eine schwache Politik gegenüber dem Aggressor und unzureichende Unterstützung für die Ukraine zu rechtfertigen?
Die Geschichte zeigt jedoch, dass die Beschwichtigung und Besänftigung des Angreifers keinen verlässlichen Frieden bringt.
Frieden kann nur durch die Bereitschaft gewährleistet werden, ihn mit Waffen in der Hand zu verteidigen. ‚Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor‘, sagten die Römer. Und wenn die Europäer in den letzten Jahrhunderten die Lehren aus der römischen Geschichte vergessen haben sollten, dann müssen sie für diese „Vergesslichkeit“ büssen, wie sie es auch schon in den späten 30er Jahren des 20. Jahrhunderts tun mussten. Der Westen wendet zwar viel Geld und Technologie auf, wenn er aber weiterhin an Geld und Waffen für die Ukraine spart, wird er früher oder später mit dem Leben seiner eigenen Bürger bezahlen müssen. Er kann allerdings jederzeit auch kapitulieren. Es gibt auch solche Erfahrungen, und offenbar ist es diese Erfahrung, die eine Reihe westlicher Politiker leitet“.
Der Sarkasmus des Autors ist nicht zu übersehen.
Allerdings gibt es tatsächlich im westlichen Bündnis gerade bei der Bereitstellung von Waffen in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Differenzen. Deutschland spielt hierbei eine auffällige Sonderrolle. Der Bundeskanzler weigert sich interessanterweise bis heute auszusprechen, die Ukraine solle den Krieg gewinnen und Russland solle den Krieg verlieren. Er besteht darauf, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren und Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen. Das sind kleine aber entscheidende Unterschiede in den Nuancen und geben zu allerhand Vermutungen Anlass. Offensichtlich will der Bundeskanzler die Beziehungen zu Russland nicht einfrieren, da er sich eine Nachkriegsordnung in guter sozialdemokratischer Tradition ohne konstruktive Zusammenarbeit mit Russland nicht vorstellen kann. Zwar hat die Bundesregierung allen Maßnahme-Beschlüssen des Westens zugestimmt und die Ukraine auch in erheblichem Umfang unterstützt, wenn es aber um konkrete Lieferungen schwerer Waffen ging, hat sie nur sehr zögerlich und auch nur auf Druck der Verbündeten reagiert. Begründungen für dieses Verhalten hat der Bundeskanzler nie gegeben. Er hat immer nur stereotyp andeutungsweise beschworen, man wolle deutscherseits keine Alleingänge unternehmen, mit den Lieferungen keine Eskalation des Krieges beflügeln und die Atommacht Russland nicht bis zum Äussersten reizen. Außerdem liefere man ja, was nötig sei. Was aber unter „nötig“ zu verstehen sei, wurde nie konkretisiert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass manche Analysten den Verdacht äußern, die Bundesregierung verfolge eine eigene Agenda. Die in der Bevölkerung weit verbreitete Angst vor einem Atomkrieg wurde sicher auch von Scholz selbst maßgeblich befördert durch seine immer wieder öffentlich zelebrierte eigene Angst vor einem Atomkrieg.
Die mantraartige Feststellung westlicher Politiker, dass der Zeitpunkt und die Bedingungen für Verhandlungsangebote an Russland ausschließlich Angelegenheit der Ukraine seien, ist wohlfeil. Mittels überlegter quantitativer Dosierung und mittels qualitativer Auswahl der gelieferten Waffen wird sehr wohl massiver Einfluß auf die Entscheidungsfindung der ukrainischen Führung genommen. Auch der jeweils gewählte Zeitpunkt der Lieferungen ist ein wirksames Steuerungsinstrument. Es stellt sich nämlich beispielsweise die bange Frage, ob die letztendlich zugesagte Lieferung von Kampfpanzern nicht absichtlich so lange verschleppt wurde, bis die Panzer eventuell zu spät zum Einsatz kommen und für die Ukraine nur noch bedingt von Nutzen sind. Und wie steht es mit den sehr wirkungsvollen und für die Ukraine sehr wichtigen Marschflugkörpern Taurus? Eine offene Frage!
Die ganze Dilemma macht deutlich, dass es höchste Zeit ist, dass der gesamte Westen (einschließlich Deutschland) endlich zu einem Konsens über die Clausewitzsche „Zweck-Ziel- Mittel-Relation“ gelangen muß. D.h. man muss sich klar darüber einigen, was man gemeinsam in der Ukraine bezweckt, dann ein klares Ziel definieren und schließlich sich verständigen, welche Mittel (insbesondere Waffen) man zur Erreichung des Zweckes und des Zieles bereit und in der Lage ist, anzuwenden. Schließlich sollte der Westen auch aufhören, auf Eskalationen Russlands immer nur zu reagieren, sondern sollte dazu übergehen, selbst rote Linien zu setzen und so in die Vorhand zu gelangen. Eine immer wieder von russischer Seite instrumentalisierte Atomkriegsangst sollte überwunden werden. Sie wirkt lähmend und Putin weiß das.