Europa! Europa! Das 21. Jahrhundert im Zeichen Europas! Euro! Erweiterung! Verfassungsvertrag! Die Schlachtrufe sind unüberhörbar. Der Moloch Europa frißt alles auf. Er ist wie Saturn, der seine eigenen Kinder frißt. Alles stopft er in sein gefräßiges Maul, zermalmt es und preßt den Brei in seinen gewaltigen Magen. Seine Agenten hetzen auf dem gesamten Kontinent herum und tapezieren ihn mit ihren Normenvorschriften. Nichts ist vor ihnen sicher. Gerüchten zufolge soll demnächst sogar das Spitzen des Mundes beim Küssen normiert werden. Die Normen versuchen selbst bis ins Schlafzimmer vorzudringen. Geduldig ertragen wir alles und fügen uns in unser Fatum.
Die EU-Norm 272829/30 hat es aber geschafft, mich, einen friedlichen Zeitgenossen, einen gutmütigen und gläubigen Europäer, zum Revolutionär zu machen, zum Widerstandskämpfer, ja, vielleicht sogar zum Attentäter. Man stelle sich vor: Besagte Norm will mir mein „ß“ rauben, den Stolz meiner Schrift, das liebenswürdige, edle, grazile, elegante, bescheidene „ß“. Es ist ein Buchstabe, den ich über alles liebe. Er ist der größte Schatz meiner Schrift. Gibt es einen anderen Buchstaben, an dessen anmutiger Linienführung sich das Auge kaum satt sehen kann? Keine Ecken, keine Kanten, nur Rundungen und sanfte Wölbungen, und das alles bar jeder Symmetrie. Er ist ein Kunstwerk, geradezu eine Offenbarung. Er ist wie das Lächeln der Mona Lisa, bezaubernd, süß und geheimnisvoll, ein Kleinod.
Böse Zungen behaupten nun, er sei ein B mit Rüssel. Das ist Rufmord, ein abgefeimtes Spiel! Prompt fühlt sich Brüssel durch das „B mit Rüssel“ herausgefordert und hat meinem geliebten „ß“ den Kampf angesagt. Wie sagt der große Winckelmann: „Edle Einfalt, stille Größe!“ Mein „ß“ verzichtet in edler Schönheit und stiller Genügsamkeit auf einen Großbuchstaben. Nie will es am Anfang eines Wortes stehen. Das ist wahre Größe! Es will auch namenlos sein, voller Bescheidenheit. Zotige Männer nennen es ein „scharfes s“, unerhört! Andere nennen es Eszett oder sonstwie. Nein, mein „ß“ ist namenlos, wie die blaue Blume. Und diese großartigen Eigenschaften werden ihm nun zum Verhängnis. Brüssel will es nicht mehr dulden. Jeder Buchstabe hat, verdammt nochmal, einen Großbuchstaben zu haben und einen Namen! Wo kommen wir denn dahin, wenn jeder Buchstabe macht, was er will! Niemals! Alles muß normiert sein. Wenn das „ß“ es also nicht schafft oder sich weigert, einen Großbuchstaben zu haben und sich taufen zu lassen, muß es weg! Weg, weg! Es stört die Systematik! Aus! Basta! Jede Blume, jedes Tier, ja jeder Wurm genießt heutzutage Artenschutz. Nicht so mein „ß“! Es soll ausgerottet werden, auf ewig verschwinden. Niemand kommt auf die Idee der Mona Lisa das Lächeln zu verbieten, nur weil die andern Gemälde im Louvre grimmig dreinschauen. Mein „ß“ aber soll verschwinden. Reicht es nicht, daß unsere Kulturokraten in vorauseilen- dem Gehorsam dabei waren, wie üble Mordgesellen das Vernichtungswerk beinahe vollständig zu verrichten, ein Werk, das sie voller Heimtücke Rechtschreibreform nannten? Nein, jetzt soll mein „ß“ auch aus den letzten Reservationen, in die es die Sprachanarchisten gesperrt hatten, verjagt werden. Oh, weh! Der unschuldigste wiewohl deutscheste Buchstabe wird dann gänzlich zu SS. Nein, ich wage gar nicht weiterzudenken. Mir reicht’s! Das ist Terror! Das mache ich nicht mit! Niemals! Niemals!
Komm’ zu mir geliebtes „ß“! Bei mir findest du Asyl. Ich werde dich hegen und pflegen, so lange ich lebe. Ich werde dich beschützen. Ich baue dir ein Biotop. Dort sollst du blühen und gedeihen. Du bist schön! Ich liebe dich!