Wegen gräßlicher Magenschmerzen ließ ich mich eines Sonntags von meiner Frau in das Kreiskrankenhaus Bad Königshofen fahren, wo ich mir rasche Linderung erhoffte. Nach nicht enden wollenden Untersuchungs- und Therapieprozeduren begann ich meinem Freund, dem Chefarzt, allmählich zu glauben, daß der Faktor Zeit auch in der modernen Medizin keinesfalls vernachlässigt werden dürfe, was für mich jämmerlich leidende Kreatur wohl heißen sollte: „Sei still und warte erst einmal ab!“ Er meinte also nicht die philosophische oder gar poetische Dimension der Zeit, sondern ausschließlich die brutal naturwissenschaftliche. Ich begann, mich in mein Fatum zu fügen, und befolgte sogar seine Anweisung, tagelang zu hungern und zu dürsten. Besonders der Durst plagte mich sehr. Ich begann mir vorzustellen, wie der erste Schluck Wasser schmecken würde. Die Gier nach Indian Tonic Water beherrschte mich ganz stark. Nach einiger Zeit gesellte sich neben eine 1,5-Liter Plastikflasche Tonic, die ich jüngst in Frankreich kennengelernt hatte, ein großer Becher mit Vanilleeis. Erst waren es sechs Kugeln, dann zwölf. Seltsame, schlumpfähnliche, winzige Wesen spannten grinsend ihre blauen, grünen und roten Sonnenschirmchen aus Creppapier auf, legten sich darunter und begannen mit Plastiklöffelchen ihre Unterlage aufzuessen. Die Eiskugeln wurden aber nicht kleiner, sondern sie wuchsen erstaunlich schnell und hatten bald die Ausdehnung von Tennisbällen und schließlich sogar von Handbällen. Dies ergötzte die kleinen Wesen anscheinend so sehr, daß sie zu tanzen anfingen, zunächst jedes für sich, dann alle im Kreis, immer schneller, immer schneller, immer schneller. Sie waren nicht mehr von einander zu unterscheiden. Das zunächst leise und dann immer lauter werdende scheppernde Geräusch kannte ich. Ich sah genauer hin. Die Wesen waren verschwunden und die runzelige Hand meiner damals über 85-jährigen Urgroßmutter, Grißi genannt, rührte mit einem emaillierten Schöpflöffel rhythmisch in einer mir wohlbekannten, ebenfalls emaillierten Schüssel, innen hellblau, außen dunkelrot. Grißi rührte in einer fast vollen Schüssel Vogelmilch. Ich muß damals ungefähr neun Jahre alt gewesen sein und wartete mit sicher ganz weit aufgerissenen Augen auf meine Kelle. Vogelmilch gab es gelegentlich an sehr warmen Tagen zum Mittagessen. Es war mit Vanillegeschmack versetzte und mit viel Honig gesüßte Milch, in der schneeweiße Flocken von steif geschlagenem Eiweiß schwammen. Wir saßen im Garten an einem langen Tisch unter einem Birnbaum und zwei Tannen neben dem Schafstall. „Wer bekommt heute zuerst?“ „Ich!“ Mein Bruder Seppi streckte unmißverständlich seinen Teller hin. „Jetzt ich! Jetzt ich!“ Grißi tat, als höre sie mich nicht. Hertamaria, meine Schwester, meine Mutter, Omama. Marthatante und sie selbst löffelten alle bereits die Vogelmilch. „Joi! Karli! Dich habe ich ja ganz vergessen. Weil Du aber so bescheiden warst, bekommst Du einen Extralöffel Honig.“ „Schaut, wie er jetzt strahlt! Gib ihm doch bitte zwei Extralöffel!“ Marthatante lachte, wie es mir bei ihr immer so gut gefallen hat. Sie war wie eine Heilige für mich, seit sie vor einiger Zeit aus russischer Zwangsarbeit in der Taiga zurückgekehrt war, wo sie ihre Jugendträume verloren hatte. Nach dem Essen hieß es: „Kinder geht spielen!“ Bruder und Schwester waren sofort weg. Ich sagte: „Ich gehe in den Wald.“ „Aber nur, wenn der Mischi mitgeht, und vergiß deinen Pyjama nicht!“ Seiler Mischi war mein bester Freund und wir beide blieben oft tagelang „im Wald“, der eigentlich kein Wald war, sondern eine weit vom Dorf entfernte Flur, die unserem Hansonkel gehörte. Gleich angrenzend an die Äcker und Wiesen war allerdings ein riesiger fast undurchdringlicher Wald, der tief in das Szeklergebiet hineinreichte. Unser Steffen Hansonkel war eine wichtige Persönlichkeit. Er war nicht nur Kirchenvater und später sogar Kirchenkurator gewesen, allein das ist in einer siebenbürgischen Gemeinde etwas ganz besonderes, sondern er war auch einer der wohlhabendsten Bauern und hatte es sogar fertiggebracht als allerletzter vor dem Kommunismus zu kapitulieren und seine Selbständigkeit aufzugeben. Das habe ich allerdings nicht mehr beobachten können. Die Steffens, die eigentlich Baier hießen, Familiennamen spielten in unserem Dorf kaum eine Rolle und etliche meiner Schulkameraden haben erst in der Schule erfahren, wie sie wirklich hießen, die Steffens also, waren eine der angesehendsten Freundschaften, d.h. Verwandtschaften, zu der wir auch irgendwie gehörten. Hansonkel war im Dorf unser Nachbar, hielt sich aber sehr oft mit seiner gesamten Familie, er hatte zwei Töchter und drei Söhne, von denen zwei auch in russischer Verschleppung gewesen waren, in seinem bescheidenen Aussiedlerhof „im Wald“ auf. Einmal strich er mir über den Kopf und sagte: „Weißt du Karli, hoffentlich gelangt ihr bald hinauf ins Reich zu eurem Vater. Hier habt ihr keine Zukunft, und deine Mutter wird noch ganz krank und schwermütig. Kommunismus und dann auch noch mit den Walachen, das endet nur im Elend. Ich hoffe daß ich das Ende dieses Skandals noch erleben werde, aber dann wird es keinen Wald mehr geben und die Weinberge deines Großvaters wird es auch nicht mehr geben. Sie ruinieren alles. Ich kann sie nicht mehr sehen. Deshalb bin ich viel lieber hier draußen.“ „Hier finden uns auch die Russen nicht so leicht.“ „Hast du Angst, die Russen würden wieder kommen? Die kommen nicht mehr. Sie haben ja ihre Brut hier gelassen und uns auch noch das Kolonistenpack aus dem Erzgebirge hergeschickt, die nur Löffel schneiden können, hier aber die großen Herren spielen und dann das ganze Zigeunervolk!“ Seiler Mischi, der ständig auf der Flucht vor den Erziehungsmaßnahmen seiner drei älteren Schwestern war, und ich waren im Sommer und im Herbst mehr bei den Steffens als zu Hause. Also gingen wir auch häufig mit in den Wald. Heute wollten wir uns alleine auf den Weg machen. Mischi war aus irgendeinem Grunde schon vorausgegangen. In den „7 Dörfern“, der letzten Gasse vor dem Dorfausgang, wo nur die Schwachen wohnten, wie man landläufig sagte, fühlte ich mich nie wohl. Im letzten Haus auf der linken Seite, am Fuße des Bulzerich, des höchsten Berges der Gemarkung, rief mich Lenchentanti auf ein Glas Milch herein, Milch, die sie irgendwo, möglicherweise sogar bei uns, erbettelt hatte. Balasi Lenchen war halb Ungarin, halb Sächsin und lebte allein. Unmittelbar nach dem Krieg war sie Kommunistin gewesen. Man hatte ihr aber übel mitgespielt, und sie war jetzt eine verbitterte und verarmte Frau. Sie lebte von der Nachernte, was streng verboten war. Sie mußte eine höhere Schulbildung genossen haben, denn oft saß sie mit Omama, einer gewesenen Lehrerin, in unserer Küche und sie unterhielten sich über Geschichte und andere schwierigen Dinge, die ich damals nicht verstand. Ich habe sie immer gerne gehabt, nicht zuletzt weil ich ihr aus der legendären Mansardenbibliothek meines Ungar-Großvaters oft Bücher, die meisten in ungarischer Sprache, bringen durfte. Mir prophezeihte sie dann immer eine große Zukunft, „wenn diese schlechten Zeiten vorbei sind.“ Die Milch war schal und sie stillte meinen Durst nicht. „Wenn du in den Wald gehst, dann sag eurem Hansonkel, er soll mir nach der Ernte einen Sack Korn oder wenigstens Türkisches Korn (Mais) über das Geländer werfen. Das macht er aber doch nicht, denn er haßt uns Ungarn.“ „Die Walachen aber noch mehr!“ „Geh’ jetzt Karli! Ich habe zu tun.“ Der schnelle Lauf zur Brombeerhecke hatte sich nicht gelohnt, denn die Früchte waren noch ganz grün. Dafür leuchteten die dicken Pflaumen an der Abzweigung zum Wald, halblinks ging es nach Pipe, einem Szeklerdorf, rotblau, und ich rupfte gleich eine ganze Hand voll ab. Sie waren aber sauer und hart. Die Frühpflaumen am Dorfschild von Pipe waren süß, aber allesamt verwurmt. Auf der halben Strecke zum Dorfbrunnen vor der Kirche, die Szekler in Pipe waren durchwegs unitarisch, hüpften drei Buben auf dem Weg herum. Sie waren wie ich auch barfuß. Alle Kinder liefen im Sommer barfuß herum, mit Ausnahme in der Kirche, versteht sich. Zwei von ihnen hatten „Korkpilzmützen“, eine Spezialität der Szekler, auf dem Kopf, der dritte war kahl geschoren, und seine Kopfhaut war von der Sonne ganz rot verbrannt. Im Sommer waren fast alle Buben kahl geschoren, ob Sachsen, Walachen oder Szekler, alle, die Zigeunerbuben sowieso. Ich selbst hatte seit einiger Zeit immer ein Büschel auf der Stirn. „Wie ein Hitlerjunge!“ hatte Steffen Hans gesagt, als er seine Stutzmaschine absetzte. Der Junge mit der roten Kopfhaut hatte ein Stück Brot und durchwachsenen Speck in der Hand und bot mir stumm davon an. Rumänisch oder Sächsisch konnte er sicher nicht, konnte aber auch nicht damit rechnen, daß ich Ungarisch könne. Während ich nach meinem Taschenmesser griff, bemerkte ich, daß seine Hände graubraun vor Dreck glänzten. Auch er betrachtete jetzt seine Hände, legte das Brot und den Speck auf einen Stein neben dem Straßengraben und begann sich in einem Rinnsal zu waschen. In dem Augenblick schnappte ein streunender Hund nach dem Speck und floh mit eingezogenem Schwanz davon. Die drei Buben warfen fluchend mit Steinen hinter ihm her und hatten ihr ganzes Interesse an mir verloren. „Hast Du Durst? Willst du ein Töpfchen Wasser?“ Am Brunnen schöpfte ein großer und starker Mann einen Eimer Wasser und sprach Hochdeutsch mit mir. Gierig trank ich das Töpfchen aus und bemerkte, daß der große Mann ein riesiges Kinn hatte. Ein so großes Kinn hatte ich bisher noch nicht gesehen. Seine wulstige Unterlippe hing tief nach unten. Viele Jahre später, als ich zum ersten Mal von der „Habsburgerlippe“ erfuhr, erinnerte ich mich wieder an den Mann. „Wie heißt du?“ „Ich heiße Karl Scheerer, aber die Leute sagen Ungar-Karli zu mir.“ „Ach, von meinem Freund und Amtsbruder Ungar bist du ein Enkel? Ich bin der Pfarrer von Pipe. Komm mit mir!“ Auf der Veranda des Pfarrhofes saßen an einem Tisch eine große, etwas traurig blickende Frau und zwei Buben in meinem Alter. Beide hatten das gleiche gewaltige Kinn wie ihr Vater und die wulstige herabhängende Unterlippe. „Das ist meine Frau und hier sind meine Söhne Imre und Sandor.“ Dann sagte er schnell etwas auf Ungarisch, von dem ich nur die Hälfte verstand. Die Augen der traurigen Frau wurden freundlich und sie sagte auf Sächsisch, daß sie meinen Großvater gut gekannt habe und sie überhaupt über uns und unser Schicksal alles wisse. Mit den Buben konnte ich nur Rumänisch sprechen, das sie allerdings viel schlechter als ich beherrschten. Sächsisch und Hochdeutsch verstanden sie nicht. „Schau! Karoly, diesen Sohn habe ich nach unserem großen Tököly Imre genannt. Einer meiner Vorfahren war sein Kammerdiener in Käßmark in der Tatra. Tököly war unser „König“. Wir Szekler gehören so zur großen ungarischen Nation wie ihr Sachsen zu den Deutschen gehört. Damals habt ihr Sachsen zum Kaiser gehalten, wir Szekler aber zu unserm Tököly. Es ist auch in Ordnung so. Jeder muß wissen wohin er gehört. Heute gehören wir Szekler und ihr Sachsen zusammen, vor allem wir Evangelischen.“ Damals wußte ich nicht, daß ich ein Dutzend Jahre später eine Seminararbeit über den „Kuruzzenkönig“ Tököly schreiben und vierzig Jahre später an seinem Grabmal in Käßmark stehen sollte. „Dieser Sohn heißt nach Petöfi Sandor, der bei Schäßburg im Kampf gegen die Kaiserlichen gefallen ist. Ihr habt euren Theodor Körner, wir haben unseren Petöfi.“ Über Petöfi wußte ich gut Bescheid, denn ich hatte immer sehr gut zugehört, wenn Balasi Lenchen und Omama sich in der Küche unterhielten, und dabei war oft die Rede von Petöfi. „Sandor will aber Pfarrer werden, wie ich. Das möchte auch seine Mutter gerne.“ „Ich will auch Pfarrer werden!“ „Du bist aber keck! Sieh’ zu, daß du erst ins Reich kommst. Hier hast du keine Zukunft.“ Nachdem er seinen Söhnen alles übersetzt hatte, sah mich vor allem Sandor unentwegt an. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten und fühlte mich unwohl. Auch quälte mich der Durst wieder, obwohl ich etliche Töpfchen Wasser trank. Der riesige Mann schien das zu bemerken und sagte: „So, jetzt gehst du nach Hause, sonst machen sich deine Leute Sorgen. Grüße sie schön von uns!“ Ich schämte mich zu sagen, daß ich ja eigentlich in den Wald gehen wollte. Dann sagte er etwas auf Ungarisch, von dem ich nur so viel verstand, daß die beiden Buben mich ein Stück begleiten sollten. Unterwegs warfen wir mit Steinen hinter den Vögeln her und riefen uns das eine oder andere auf Rumänisch zu. Am Haus von Lenchentanti blieben Imre und Sandor stehen. Das riesige Kinn von Sandor bebte und es schien mir, als habe er Tränen in den Augen. Plötzlich drückte er mir einen Kuß auf die Wange und sagte „Prieten!“ (Freund). Mein Kopf wurde ganz heiß und als ich mich noch einmal umdrehte standen sie immer noch da, das Kinn von Sandor bebte. Dreißig Jahre später sah ich aus dem Fenster eines Reisebusses das gleiche bebende Kinn. Es war an einer Baustelle vor der Einfahrt nach Suceava, wo ich auf einer Studienreise zu den Moldauklöstern unterwegs war. Ein großer starker Mann in Arbeiterkleidung starrte mich an und sein gewaltiges Kinn bebte. Seine wulstige Lippe zitterte und er hob kaum bemerkbar und eher verunsichert seine rechte Hand wie zum Gruß. „Sandor!“ schoß es mir durch den Kopf. Der Bus bog um die Ecke. Lenchentanti hatte die Szene über das Geländer beoabchtet und rief mich in den Hof. „Schau, schau, drei Pfarrersbuben! Willst du frischen Apfelmost? Ich habe gerade welchen gemacht. Die Äpfel habe ich am Bulzerich aufgelesen. Es kümmert sich ja kein Mensch mehr um das Obst. Das sind Zeiten!“ Der Most schmeckte gut, löschte aber meinen Durst nicht. „Die Szeklerbuben werden es schwer haben, aber du wirst einmal ein großer Herr. Das sehe ich in deinen Augen.“ Hinter den „7 Dörfern“ auf dem Weg zum „Hügel“ saß ein alter Mann auf einer Bank vor dem Tor und fragte mich, ob ich einer der Ungarenkel sei und woher ich komme. „So, so, du kommst von Wepperschdorf. Pipe sagen nur die Walachen. Auch dort gab es einmal Sachsen, aber sie sind erdrückt worden.“ „Hat man sie erwürgt?“ „Nein, nein, die Szekler sind anständige Leute, aber die Sachsen konnten sich dort nicht halten und sind zu uns gekommen. Deshalb gehört auch der Wald vom Steffen Hans zu uns. Wißt ihr etwas neues von eurem Vater? Ist er noch in Österreich oder ist er schon im Reich?“ Vor unserem Tor stand Grißi mit einer Nachbarin, die gerade bei uns frisches Wasser geholt hatte, und unterhielt sich. „Joi, Karli, bist du nicht im Wald?“ „Nein, ich war nur bis Pipe, jetzt habe ich Durst.“ „Lauf schnell hinauf in die Küche! Es ist noch Vogelmilch da.“ Als ich atemlos die Tür aufriß, stand in grellem Licht eine weiß bekleidete Krankenschwester und sagte: „Haben Sie einen Wunsch, Herr Dr. Scheerer?“ „Ja, Vogel…., nein danke!“ „Dann Gute Nacht!“ „Gute Nacht!“ Zu der 1,5-Literflasche Tonic gesellte sich wieder ein Becher mit Vanilleeis, zuerst sechs Kugeln, dann zwölf.
War es ein Traum? War es eine Erinnerung?