Weihnachten in Nadesch

Zu Weihnachten 2023 fiel mir unser Weuhnachtsfest 1954 in meiner Heimatgemeinde in Siebenbürgen wieder ein. Für meine Freunde, aber auch für meine Familie und Nachkommen habe die Erinnerung festgehalten.

Weihnachten in Nadesch

Meine Heimat ist Transsylvanien, das Land hinter den Wäldern im südöstlichen Karpatenbogen. Wir bevorzugen die Benennung Siebenbürgen. Es ist ein multiethnisches Land und die dort lebenden Menschen sind in der Regel mehrsprachig.

In meinem Heimatdorf Nadesch waren die Mehrheit Deutsche, die seit dem Mittelalter dort siedelten und sich seit dem 16. Jahrhundert zur Evangelisch-Lutherischen Konfession bekannten. Daneben gab es orthodoxe Rumänen, unitarische Ungarn, einige Armenier und über 100 Zigeuner. Letztere waren sehr kinderreich und wohnten am Dorfrand in windschiefen Hütten. Jede Zigeunerfamilie fühlte sich zu einem deutschen Hof zugehörig und die Erwachsenen arbeiteten dort gelegentlich als Tagelöhner. Zu der Entlohnung gehörte unter anderem die Erledigung von Schreibarbeiten, da sie allesamt Analphabeten waren. Das Oberhaupt „unserer“ Zigeunerfamilie war der alte Russi, ein virtuoser Geiger, der im Heeresmusikkorps der K.u.k.-Armee gedient hatte und ein drolliges Wiener Kucheldeutsch sprach. Er war eine Respektsperson und genoss bei allen Ethnien ein hohes Ansehen. Ich mochte ihn sehr gerne, denn er war mein Geigenlehrer und brachte mir als erstes Stück „Ich bete an die Macht der Liebe“ aus dem Großen Zapfenstreich bei.

Geboren wurde ich 1943 in einer anderen deutschen Gemeinde, wo mein Vater evangelischer Pfarrer gewesen war. Ich hatte noch einen älteren Bruder und eine ältere Schwester. Noch vor meiner Geburt war mein Vater gegen seinen Willen von der örtlichen Volksgruppenführung und der reichsdeutschen Besatzungsarmee in die Waffen-SS gepresst worden. Ein Jahr danach erhielt meine Mutter die offizielle Mitteilung, mein Vater sei im heldenhaften Kampf für das Großdeutsche Reich gefallen.

Ende 1944 erging der Befehl der Wehrmacht, dass alle Deutschen in dem nördlichen Teil Siebenbürgens, der damals vorübergehend zu Ungarn gehörte und in dem wir lebten, sich unverzüglich auf die Flucht nach Westen zu begeben hätten. Im südlichen, zu Rumänien gehörenden größeren Teil Siebenbürgens, wo auch alle unsere Verwandten wohnten, durfte niemand das Land verlassen. Aus unserem Dorf machten sich die meisten mit ihren Wägen und ihrem Vieh in einem Treck auf den Weg und gelangten später bis nach Österreich, wo sich die meisten dauerhaft niederliessen. Meine Mutter wurde mit ihren drei kleinen Kindern in einem vollgestopften Zug für Viehtransporte nach Westen verfrachtet, ein Transport der ständigen Luftangriffen durch die Alliierten ausgesetzt war. Viele verloren ihr Leben. Weihnachten verbrachten wir wie auch die anderen verängstigten Mitreisenden auf einem Abstellgleis in Prag. Danach langte der lädierte Zug im übervölkerten Dresden an, das eine Art Sammelbecken für Flüchtlinge aus dem Südosten war. Kurz vor dem verheerenden Bombardement der Stadt wurde unsere Familie zu unserem Glück ins Erzgebirge evakuiert, so dass wir überlebten. Als die Rote Armee das Erzgebirge überrollte, wurden wir mit Gewalt nach Siebenbürgen zurückgetrieben. Wir fanden Unterschlupf auf dem Hof meiner Großeltern mütterlicherseits in Nadesch im rumänischen Teil Siebenbürgens, wo ich dann auch aufwuchs. Allerdings gab es in der deutschen Gemeinschaft nur Kinder und alte Menschen, da die gesamte arbeitsfähige Generation, auch meine Verwandtschaft, in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit verschleppt worden war. Viele von ihnen arbeiteten in den Gruben des Donbas, andere im Ural und in Sibirien.

Noch ging es uns in der neuen Heimat gut. Mein Großvater war sehr vermögend gewesen, war aber gleich nach dem Einmarsch der Roten Armee gestorben. In dem sehr geräumigen Haus lebten meine Urgroßmutter, meine Großmutter, ein damals 10-jähriger Cousin von uns, der kriegsbedingt zur Waise geworden war, und wir. Die Idylle endete abrupt, als im Jahre 1948 die vollständige Enteignung stattfand und wir uns allesamt mit einem einzigen Zimmer begnügen mussten. Später, als eine Schwester meiner Mutter von der Zwangsarbeit im Ural-Gebirge zurückkehrte, erhielten wir noch ein zweites Zimmer zugeteilt. Zunächst lebten wir sehr ärmlich von den Reserven. Die Lage entspannte sich etwas, als meine Mutter eine Anstellung als Hilfslehrerin erhielt, und meine Tante zur Sekretärin der Kolchose ernannt wurde.

Unser schönster und glücklichster Tag der damaligen Zeit war der Heilige Abend 1954:
Zunächst besuchten wir wie alle Deutschen den feierlichen Gottesdienst in der geräumigen Kirche. Die Konfirmanden saßen auf der Empore und schmetterten laut

Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich
in seinem höchsten Thron,
der heut‘ schließt auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn
.

In der Apsis vor dem Altar standen die Konfirmandinnen mit ihren aus Immergrün geflochtenen Leuchtern und antworteten mit

So nimm denn meine Hände und führe mich
bis an mein selig Ende und ewiglich.
Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt: wo du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit.

Die ganze Gemeinde lauschte andächtig diesem traditionellen Wechselgesang.
Nach dem Gottesdienst stürmten wir nach Hause. Dort brannten die Petroleumlampen und es roch nach Bratwurst und Kraut. Nach dem Essen und dem Dankgebet sagte meine Großmutter feierlich: „Liebe Kinder, heute gibt es ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk. Unser Herrgott hat es möglich gemacht. Nun hört gut zu: Ihr wißt ja, dass vor ein paar Tagen der Georg Schuster aus Österreich zurückgekommen ist.“ „Ist das der mit den Rasierklingen?“, fragte meine Schwester. Zu der damaligen Zeit gab es im ganzen Land keine Rasierklingen zu kaufen. Auf dem Schwarzmarkt wurden sie sehr teuer gehandelt. Besagter Georg Schuster hatte die Lage erkannt und ein Köfferchen voller nagelneuer Wilkinson- Rasierklingen aus Österreich mitgebracht. Er galt für lange Zeit als der reichste Mensch des Dorfes. „Also der Georg Schuster mit den Rasierklingen war gestern hier und hat uns mitgeteilt, dass Euer Vater in Linz an der Donau lebt und dort im Rahmen der evangelischen Kirche Österreichs eine hohe Funktion bekleidet. Herr Schuster hat mit ihm gesprochen und erfahren, dass er glaubt, ihr wärt auf der Flucht ums Leben gekommen. Von einer Todesmeldung durch die Armee wußte er nichts. Die Mitteilung an Eure Mutter war ein Irrtum.“ Minutenlang war es im Raum totenstill. Meiner Mutter liefen die Tränen über die Wangen. Diese Nachricht war in der Tat ein wunderbares Weihnachtsgeschenk. Der Herrgott hatte uns unseren Vater zurückgegeben. „Warum kommt er nicht auch nach Hause?“ fragte mein Bruder. „ Das geht nicht, denn erstens hat er auf der Seite der Deutschen am Krieg teilgenommen und zweitens ist er ja Pfarrer. Das ist heutzutage ein gefährlicher Beruf. Die Kommunisten würden ihn sofort für viele Jahre zur Zwangsarbeit am Donau-Schwarzmeer-Kanal abtransportieren. Das Beste ist, wenn ihr zu eurem Vater nach Österreich zieht, natürlich wenn man euch lässt.“ Man ließ uns jahrelang nicht ziehen. Als meine Mutter mit Hilfe des Roten Kreuzes die Adresse meines Vaters ausfindig gemacht hatte, nahm sie Kontakt zu ihm auf, und er fiel aus allen Wolken, als er las, dass seine Familie am Leben war.
Für uns begann aber eine jahrelange Zeit der Not und der Angst. Meine Mutter hatte in der Kreisstadt Schäßburg die Ausreisepapiere nach Österreich beantragt, was die kommunistischen Behörden ihr sehr übel nahmen. Sie wurde in Haft genommen und aufgefordert, meinen Vater zur Rückkehr zu drängen. Als sie sich weigerte, wurde sie in Sippenhaft genommen und täglich drangsaliert. Besuche durfte sie nicht empfangen. Meine Großmutter verständigte meinen Vater auf verschlungenen Wegen, beschwor ihn aber, nicht zurückzukehren, da ihm eine hohe Haftstrafe drohe. Wir Kinder lebten in ständiger Angst, insbesondere weil die Securitate auch uns nicht in Ruhe ließ. Oft ging ich in ein nahegelegenes Wäldchen, hockte mich mit dem Rücken an einen Baum gelehnt hin und weinte. Abwechslung fand ich auf dem Speicher unseres Hauses, wo mein Großvater, der ebenfalls Pfarrer gewesen war, ein riesige Bibliothek hinterlassen hatte. Die Kommunisten waren bei der Enteignung zu faul gewesen, auf den Speicher zu steigen, und so blieb uns die Bibliothek erhalten. Hier fand ich Trost und las und las und las, auch wenn ich nicht alles verstand. Diese Lektüre kam mir später in Deutschland bis zum Abitur sehr zustatten.

Jahre später mußte mein Vater krankheitsbedingt seine aufreibende Tätigkeit in Österreich aufgeben und ließ sich in Mainz zum Pfarrer an der Christuskirche wählen, wo der Dienst etwas gemächlicher war. Von dort setzte er alle Hebel in Bewegung, um unsere Ausreise zu erwirken. Dabei floß, wie das damals üblich war, auch viel Geld. Endlich nach langer Zeit erhielten wir die Ausreisegenehmigung und verließen kurz vor Weihnachten das Land mit einem Koffer. Die Situation bei unserer Ankunft in Mainz war sehr sonderbar. Wir hatten plötzlich einen Vater und er hatte auf einmal halberwachsene Kinder. Auch waren wir aus der tiefsten Provinz Transsylvaniens in eine pulsierende deutsche Großstadt gekommen, an die wir uns erst gewöhnen mussten. An das Gute und Schöne gewöhnt man sich erfahrungsgemäß sehr schnell. So ging es auch uns. Die vielen Sorgen, die ständige Angst und die materielle Not lagen jetzt endgültig hinter uns. Darüber waren wir sehr froh. Das erste Weihnachtsfest, an dem wir wiedervereinigt waren, gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Alle waren fröhlich, auch meine verhärmte und vielgeplagte Mutter. Mein Vater stellte sich als ein wunderbarer Mann heraus, und ich habe ihn bis zu seinem Tode sehr verehrt. Nach dem Weihnachtsessen dankte er in einem Gebet für die glückliche Fügung unserer Wiedervereinigung. Dann hielt er eine kurze Andacht zum Psalm 23, die mir in plastischer Erinnerung ist: Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer

grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Anschließend schenkte er meinen Geschwistern und mir je eine Armbanduhr und eine Geldbörse mit 20 Mark. „Das ist für den Start in das neue Leben. Ihr habt jetzt alle Chancen der Welt. Ihr müsst sie nur nutzen“.

Mein weiterer Lebensweg eröffnete mir in der Tat alle Chancen, Chancen, die ich in Siebenbürgen niemals gehabt hätte. Ich war überzeugt, dass mein Weg, auch wenn er teilweise schwer war, in der sicheren Hand Gottes gelegen hatte. Dieser Überzeugung bin ich heute noch.

Deutsche evangelische Kirche von Nadesch