Avram

Ich bin in Siebenbürgen aufgewachsen. Die Geschichte schildert die letzten Wochen und Tage vor meiner Auswanderung nach Deutschland im Jahre 1957.

Der Schnellzug ratterte rhythmisch und gedämpft wie auf Polstern. „Wann sind wir in Bukarest?“ Seppi fingerte ungeduldig an seinen Gesichtspickeln. „Na, das dauert noch, wir sind gerade über den Predealpaß gefahren.“ Marthatante streichelte ihm lachend über den Kopf. „Ich will aber endlich raus aus diesem beschissenen Land.“ „Sei still und mach` uns nicht schon wieder Ärger!“ Mutter war zusammengezuckt und schaute sich ängstlich um. Sie hatte auch allen Grund ängstlich zu sein. Seit sie die Ausreisebewilligung, also den „Pass“, in den Händen hatte, war sie zweimal zur Miliz zitiert worden und konnte den Einzug der Papiere nur mit einem Eimer Wein und zwei Kilo Honig verhindern. Im einen Fall hatte Seppi laut auf der Straße über Staat und Partei geschimpft, im anderen Fall war ich mit dem Fahrrad des Lehrers Roth freihändig die Straße hinunter gefahren, was der Dorfpolizist zum Anlass genommen hatte, mich für ein paar Stunden im Rathaus einzusperren und die Papiere zu verlangen. Nach diesen Vorfällen hatten wir dann bis zur Ausreise Hausarrest.Mutter begann zu weinen und suchte nach einem Taschentuch. „Joi, Mutter, wein` doch nicht schon wieder, es wird ja jetzt alles gut!“ Hertamaria, meine Schwester, kratzte sich aufgeregt am Kopf. Außer uns saß noch eine ältere Rumänin mit rosa getönten Haaren und bläulich gefärbten Lippen im Abteil. Sie hatte bisher geschwiegen, uns aber genau gemustert. „Machen Sie sich keine Sorgen! Ich bin auch auf dem Weg nach Bukarest. Sie haben meinen Mann im Frühjahr eingesperrt. Ich will jetzt sehn, was ich tun kann. Haben Sie keine Angst vor mir!“

An die darauf folgenden Gespräche kann ich mich nicht mehr erinnern. Draußen war es dunkel und nur ab und zu flog ein Licht vorbei. Die Sitze waren weich und es roch nach Leder. Nach einiger Zeit wurde es ganz hell und die Sonne schien. Es war sehr warm. Über der Weide war Nebel. Die schwarz-weiß gefleckten Kühe dampften und schnaubten ab und zu. „Jetzt soll der Cula noch einmal kommen! Den hau` ich windelweich, den elenden Walachen. Er hat uns schon wieder ein Fenster eingeworfen.“ Seiler Mischi knallte mit seiner neuen Peitsche, die er sich aus Hanf geflochten hatte. „Hast du noch Hanf? Ich brauche auch eine Peitsche. Die Zigeuner stehlen uns die Kirschen.“ Umständlich machte ich mich ans Flechten. „Wofür braucht ihr die Peitschen? Eure Kühe sind ja ganz lahm.“ Ein junger Rumäne hielt seinen Hund fest. Über seinen Schultern hing ein Hirtenpelz. Auf den schwarzen Locken saß ein randloses Filzhütchen. „Was machst du hier? Du redest so komisch, woher kommst du?“ Mischi hob seine Peitsche hoch. „Langsam, langsam, ich bin ein Motze und komme aus dem Erzgebirge. Seid ihr Sachsen?“ „Glaubst du wir sind Zigeuner, he?“ „Ich bin zum ersten mal hier. Ich kenne die Sachsen nicht.“ „Dann sieh zu, dass du verschwindest. Es gibt hier schon genug von eurer Sorte. Warum lasst ihr uns nicht in Ruhe?“ „Keine Angst! Wir ziehen heute noch weiter. Wir treiben unsere Schafe in die Harghita.“ „Die Szekler werden euch schon Mores lehren. Die sind nicht so gutmütig wie wir.“ So unfreundlich hatte ich Mischi noch nie erlebt. Der Rumäne blieb regungslos stehen. „Ich heiße Avram,“ sagte er nach einiger Zeit. „Wie heißt dein Hund?“ „Burkusch!“ „Burkusch, friss deinen Herren!“ Die schwarzen Augen des Rumänen blitzten. Plötzlich lachte er laut, seine Zähne leuchteten weiß. „Habt ihr Molke?“ Mischi wurde allmählich freundlich. „Kommt mit! Vergesst aber eure Kühe nicht!“ „Wen bringst du uns, Avram?“ Eine üppige Frau mit schwarzen Locken in der Stirn und ganz weißen Zähnen legte Holz in das Feuer unter dem Kessel. „Zwei Sachsen, sie wollen Molke trinken.“ „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein.“ Ein großer Mann mit schwarzen Locken unter dem Filzhütchen und ganz weißen Zähnen kam singend aus dem Zelt. „Und das heißt Erika!“, grölte Mischi. An der Viehtränke standen zwei Gebirgspferde und vier Packesel. Etwas weiter weg kläfften ein paar Hunde und rannten um eine Schafherde herum. „Ich kenne noch mehr deutsche Lieder. Die darf man aber nicht mehr singen“. „Die Fahne hoch! Ich weiß.“ Ich hatte die ganze Zeit auch etwas sagen wollen, war aber bisher noch nicht dazu gekommen. „Sei bloß still! Die Spitzel haben überall ihre langen Ohren,“ knurrte der Mann. „Das ist Florica. Sie ist 16 Jahre alt.“ Die Frau tätschelte das Mädchen am Arm. Die ganze Familie hatte schwarze Locken und weiße Zähne. Die Molke war ganz frisch und es roch überall nach Käse. „Wo sind eure Väter?“ „Mein Vater ist in Deutschland.“ Mischi antwortete nicht. Er starrte nur Florica an. „Ich war auch in Deutschland, aber ich bin wieder zurückgekommen. „Der Mann drehte sich eine Zigarette. „He, Ion, mach langsam! Du brichst dir noch den Hals.“ Ein etwa zwölfjähriger Junge sprang vom Pferd. Auch er hatte schwarze Haare und weiße Zähne. „Ich war im Dorf. Dort gibt es viele Sachsen. Sie haben aber alle Angst. Ihre Häuser sind wie Burgen.“ „Ja, ich kenne sie. In meiner Einheit waren mehrere. Sie sind gute Reiter.“ „Ihr müsst wissen, mein Mann war bei der Kavallerie.“ „Er war sogar bis in der Kalmückensteppe.“ „Wo ist das?“ Mischi war neugierig geworden. „Am Ende der Welt.“ Ion grinste hinüber zu seinem Vater. „Wie seid Ihr nach Deutschland gekommen?“ Ich konnte mir nicht erklären, wie ein rumänischer Schafhirte nach Deutschland gelangen konnte. „Pass auf, das ist eine lange Geschichte. Ich war ja bei der Kavallerie. Das war die beste Truppe der ganzen Welt. Lauter Rumänen aus Siebenbürgen und der Bukowina, ein paar Sachsen und Szekler. Unser Regimentskommandeur war der tapferste Offizier der gesamten Ostfront. Mit den Deutschen zusammen sind wir bis zum Kaukasus und noch weiter vorgerückt. Niemand konnte uns aufhalten. Weiß der Teufel, warum wir uns zurückziehen mussten. Auf jeden Fall waren wir plötzlich wieder am Pruth. Da haben sie auf einmal unseren Führer, den Antonescu, eingesperrt, später haben die Schweine ihn aufgehängt, nicht einmal erschießen wollten sie ihn, und sind zu den Bolschewiken übergelaufen. Selbst den König haben sie beschwatzt. Na ja, jetzt haben sie den Salat. Überall laufen die kommunistischen Spähhunde herum und bringen alles durcheinander. Unser Kommandeur, ein toller Kerl, machte Appell und sagte: „Ihr seid mit mir bis zu den Schlitzaugen geritten. Ihr seid die besten Soldaten der ganzen Welt. Wollt ihr jetzt zu Verrätern werden? Links um! Auf zu den Deutschen! Hurra, Hurra, Hurra, weg waren wir. In der Kesselschlacht um Budapest haben wir fürchterlich Prügel bezogen. Der Rest schlug sich durch bis zu den Amerikanern, die sich schon in Deutschland festgefressen hatten. Ich bin ihnen aber entwischt und war drei Monate später bei meiner Elena. Sie ist ein tolles Weib!“ Die Frau kicherte in sich hinein. Viele Jahre später lernte ich Ion Emilean, einen hochdekorierten ehemaligen rumänischen Kavallerieoffizier kennen. Er war mit 28 Jahren bereits Präfekt des Kreises Roman in der Moldau gewesen und galt damals als die große Hoffnung der deutschfreundlichen nationalpatriotischen Partei von A.C.Cuza. Er hatte am 23. August1944 mit seinem gesamten Regiment den Frontwechsel verweigert und war nach abenteuerlichen Jahren in Fürstenfeldbruck gelandet, wo er die patriotischen Exilzeitung „Stindardul“ (Die Standarte) herausgab. Ich erzählte ihm von der Hirtenfamilie, worauf er laut lachte und meinte: „Das war bestimmt der Korporal Avram Dunca, ein verrückter Kerl! Alle übriggebliebenen Motzen hat er überredet, mit ihm aus dem amerikanischen Gefangenenlager zu fliehen. Ich freue mich, dass er überlebt hat. Im vaterländischen Unterricht hat er eine flammende Rede auf Avram Iancu, den Helden von 1848/49, gehalten und stur und steif behauptet, der sei einer seiner Vorfahren gewesen. Mag sein, oder auch nicht. Auf jeden Fall war er trotz seiner außergewöhnlichen Tapferkeit so undiszipliniert, dass er nie dekoriert werden konnte. Die Kommunisten haben sicher keine Freude an ihm.“ „Die Mistkerle haben mich zwei Jahre lang eingesperrt und jeden Tag verprügelt. Als sie mich wieder freiließen, habe ich alles verkauft, mir Schafe angeschafft und seitdem sind wir die freiesten Menschen der Welt.“ „Jetzt wollen sie uns aber die Schafe wegnehmen, und wir sollen in so eine idiotische Genossenschaft eintreten, alles zum Wohle der Arbeiterklasse.“ „ Hab keine Angst Weib! Ich scheiß auf die Arbeiterklasse. Ich will meine Freiheit und vor allem meine Ruhe haben! Niemand nimmt mir etwas weg. Lieber verschenke ich die ganze Herde an das Zigeunerpack.“ „Das Essen ist fertig.“ Florica brachte auf einem großen Brett Maisbrei, frischen Käse und Zwiebel. Mischi und ich aßen wie die anderen mit großem Appetit. „Wann kommt dein Vater zurück?“ Der Hirte drehte sich wieder eine Zigarette. „Er kommt nicht zurück. Wir wollen hinauf ins Reich, aber man lässt uns nicht.“ „Na, dann wird es bei euch noch Tränen geben. Man wird euch noch viel drangsalieren. Ich kenne diese Schweine. Aber vielleicht habt ihr Glück und man lässt euch eines Tages ziehen. Ich wünsche es euch, denn ihr gefallt mir.“ Der junge Avram war ganz nahe an mich herangerückt. Er roch nach Schafen, was mich aber damals nicht störte. „Wir ziehen ins Hochgebirge, dort haben wir unsere Ruhe.“ „Wollt ihr nicht in die Harghita zu den Szeklern?“ Der Hirte reckte seinen Oberkörper und blies den Zigarettenrauch durch die Nase. Es sah aus wie der Atem eines schnaubenden Pferdes bei Frost. Ich hatte das noch nie gesehen. „Was schaust du mich so an? Sieh her!“ Auf einmal fing er an seine Ohren zu bewegen. „Das habe ich von einem Russen gelernt. Der hatte so viel Angst, als wir ihn gefangen hatten, dass er ständig mit den Ohren wackelte.“ Mischi lachte so laut, dass er husten musste. „Ich habe in der Harghita einen Kameraden, er ist zwar ein Szekler, aber ein ganz anständiger Kerl. Der hat da irgend so ein Amt unter sich, das alle Schafe aufkauft. Der macht mir bestimmt einen guten Preis und dann verschwinden wir in die Berge.“ „Was macht ihr in den Bergen?“ „Wozu war ich bei der Armee? In Resinar, das ist nicht weit von eurer Hauptstadt (Hermannstadt), am Fuße der Südkarpaten, dort habe ich einen Kriegskameraden, der war mit mir in Deutschland, der hat tausend Schafe im Gebirge. Die Leute in Resinar kümmern sich einen Scheißdreck um den Kommunismus. Die Bukarester Banditen lassen sie irgendwie in Ruhe. Oj, haben die Geld! Mein Kamerad hat sich aber das Bein gebrochen und kann nur noch humpeln. Wir werden seine Schafe hüten bis ich wieder eine eigene Herde habe. So einfach ist das.“ „Muss der kleine Ion nicht in die Schule?“ Der Alte musterte mich beleidigt: „ Ihr Sachsen glaubt, nur ihr könnt lesen und schreiben. Ich bringe ihm alles bei, was er braucht. Hast du mich verstanden?“ „Es ist höchst Zeit, dass wir zusammenpacken. Gott beschütze euch, ihr hübschen Sachsen! Vielleicht kommt ihr mal in die Berge von Resinar, dann bekommt ihr einen Extratopf Molke.“ Die Frau ging ins Zelt. Der junge Avram stand auf und holte unter seinem Pelz eine Flöte hervor. „Für dich! Wenn du nach Deutschland kommst, schickst du mir eine Mundharmonika!“ Mischi schenkte ihm sein Taschenmesser, schielte dabei aber immer auf Florica. „Lasst euch niemals etwas gefallen! Auch wenn wir verschiedene Sprachen sprechen, wir sind Siebenbürger!“ Der Alte streckte uns seine Hand entgegen. Avram begleitete uns noch ein Stück. Nach einiger Zeit drehte er sich wortlos um und ging zurück. Wir setzten uns hin und schwiegen. Ich bemerkte jetzt erst, dass Mischi ganz rot im Gesicht war. Er dachte sicher an Florica, ich dachte, wie es wohl sein würde, falls wir doch noch den Pass bekämen. Dann murmelte Mischi: „Wai war die schön! Glaubst Du, ich habe ihr auch gefallen?“ Die Hirten waren am Packen. Wir hörten Schreie und Pfiffe und auf einmal ein leises rhythmisches Rattern, gedämpft wie auf Polstern. Das Rattern wurde lauter. Draußen war es wiederdunkel und ab und zu flog ein Licht vorbei. Die Sitze waren weich und es roch nach Leder. „Willst du ein Käsebrot? Wir haben alle schon gegessen. Du hast so tief geschlafen, wir wollten dich nicht wecken.“ Mutter sah mich lächelnd an, es ging ihr wieder besser. „Nein danke,ich hab` schon…. nein danke, ich habe keinen Hunger.“ Der Schnellzug fuhr unruhig über etliche Weichen und wackelte hin und her. Nach fünf Minuten fuhren wir im Nordbahnhof von Bukarest ein. So einen riesigen Bahnhof hatte ich noch nie gesehen. Das große Abenteuer begann.