Ein Wanderer zwischen den Welten

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Auf dem Weg zur Schäßburger Geschäftsstelle des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien sprach mich ein etwa 50-jähriger hochgewachsener und grau melierter Mann in akzentfreiem Deutsch an: „Guten Tag, Herr Dr. Scheerer, ich gratuliere Ihnen zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Schäßburg. Ich habe an der gestrigen Zeremonie teilgenommen, wollte Sie aber nicht stören, da Sie von so vielen Menschen und Journalisten umringt waren.“ Meine Verblüffung war so groß, dass mir nur ein paar formelhafte Dankesworte einfielen. „Mein Name ist Dinu Ionescu und ich hätte gerne mit Ihnen ein längeres Gespräch geführt, da ich Sie seit meiner Kindheit kenne. Leider bin ich aber im Augenblick sehr in Eile. Ich bin auf dem Weg zum Busbahnhof, wo mich meine Schwiegermutter erwartet, die im Rahmen einer Studienreise hier in Schäßburg gerade Station macht.“

So verabredeten wir uns für den nächsten Tag in einem Café in der Unterstadt. Den ganzen Tag rätselte ich, wer dieser Mann sein könnte und woher er mich kannte. Sein Name sagte mir nichts.
Am nächsten Tag trafen wir uns dann in dem verabredeten Café.

„Sie werden sich sicher nicht mehr an mich erinnern, aber ich kenne Sie seit ich 8 Jahre alt war. Als Sie bei meiner Großtante Victoria in der Intrarea Frumoasa nahe der Calea Victoriei in Bukarest wohnten, war ich sehr häufig dort, da meine Mutter gestorben war und mein Vater sich kaum um mich kümmerte. Meistens war ich mit meiner Tante Tatjana zusammen. Sie war damals 16 Jahre alt und beschäftigte sich immer sehr liebevoll mit mir. Wir alle beide haben Sie damals sehr bewundert. Auch meine Großtante und mein Großonkel Lulu Ionescu waren sehr angetan von Ihnen.“

Meine Zeit in Bukarest kam mir plötzlich sehr plastisch wieder in Erinnerung.
1967 hatte ich an der Universität Mainz eine Dissertation über die rumänischen Bauernaufstände vom Frühjahr 1907 angenommen und war ab da intensiv mit Archivstudien beschäftigt. 1968 hatte ich die einschlägigen Archive in Deutschland (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn und Bundesarchiv in Koblenz) und Österreich (Haus-Hof-und Staatsarchiv in der neuen Hofburg sowie das Militärarchiv in der Stiftsgasse) durchforstet und wartete auf die Erlaubnis, die Staatsarchive in Bukarest und Jassy (Iasi) aufzusuchen. Nach mehreren Absagen erhielt ich zu meiner großen Überraschung vom damaligen deutschen Forschungsminister Gerhard Stoltenberg, an den ich mich gewandt hatte, die Mitteilung, dass ich nicht nur die Erlaubnis der rumänischen Behörden zum Archivbesuch in Bukarest und Jassy erhalten hätte, sondern sogar mit einem gut dotierten Stipendium der rumänischen Akademie der Wissenschaften im Austauschverfahren rechnen könne. Dies war nur möglich geworden, da sich Rumänien gerade auf Entspannungskurs befand und dem Wunsch des damaligen Bundesaussenministers der ersten großen Koalition in Bonn, Willy Brandt, nachkam, als erstes Ostblockland diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen. Als ich in Bukarest eintraf, war ich von der Höhe des Stipendiums überrascht. Der Betrag war dem meines Austauschpartners angepasst. Dieser hatte ein Forschungsstipendium am Institut für Europäische Geschichte in Mainz und erhielt eine monatliche Zuwendung in Höhe von 800 DM, ein für rumänische Verhältnisse exorbitant hoher Betrag. Einquartiert wurde ich in einem luxuriösen Zimmer in der großzügigen Wohnung der Familie Ionescu. Meine Anlaufstelle, die Akademie der Wissenschaften, befand sich ganz in der Nähe, wie auch das historische Forschungsinstitut Nicolae Iorga, dem ich zur Betreuung und zur Koordinierung meiner Archivbesuche zugeordnet worden war.

Bei der Familie Ionescu habe ich mich von Anfang an sehr wohl gefühlt, und es dauerte nicht lange, bis ich voll integriert war. Herr Lulu (Vasile) Ionescu war der letzte Generaldirektor des rumänischen Rundfunks bis zum kommunistischen Umsturz und enger Vertrauter des Conducators (Führer) Ion Antonescu gewesen. Er war sogar Ohrenzeuge der dramatischen Ereignisse vom 23.08.1944 im Königspalast, die zu dessen Verhaftung und zum Frontwechsel des Landes geführt hatten. Wenig später wurde auch Ionescu verhaftet und zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Im August 1964 kam er infolge einer allgemeinen Amnestie frei. Er kam nicht nur frei, sondern wurde sogar rehabilitiert. Die Wohnung wurde ihm zurückerstattet und er erhielt darüber hinaus die Erlaubnis, Untermieter aufzunehmen. Frau Ionescu war seine Sekretärin gewesen und war die einzige Person, die während des Prozesses und auch nach seiner Verurteilung Kontakt zu ihm gehalten und ihn mit den wenigen Möglichkeiten, die das Regime zuließ, unterstützt hatte. Nach seiner Freilassung hat er sie dann geheiratet. Eines Tages gab er mir seine handschriftlichen Lebenserinnerungen zu lesen, die für mich eine faszinierende Lektüre waren. Vor allem die Passagen über die Vorgänge vom 23.08.1944, die er in unmittelbarer Nähe der Akteure miterlebt hatte, beeindruckten mich sehr, zumal sie ein differenzierteres Urteil vermittelten, als die spätere Forschung überliefert hat. Wir beratschlagten lange, ob ich das Manuskript nicht über die Grenze schmuggeln und in Deutschland veröffentlichen solle. Eine Übersetzung ins Deutsche hatte ich vorsorglich schon angefertigt. Wir kamen schließlich zum Schluss, dass es doch zu gefährlich sei, denn Rumänien war trotz der außenpolitischen Lockerung doch ein rigider Zwangsstaat und die Securitate arbeitete auf Hochtouren. Auch hatte ich damals noch meine gesamte Verwandtschaft in Rumänien, und ich wollte sie nicht in Bedrängnis bringen, falls das Manuskript beim Grenzübertritt vielleicht doch entdeckt worden wäre. Jede Woche kam der Bruder des Hausherrn, Herr Titi Ionescu, zu Besuch. Er war trotz seines fortgeschrittenen Alters ein drahtiger Mann mit einer sonoren Stimme. Er war Berufsoffizier gewesen und sein letzte Verwendung war die eines Verbindungsoffiziers zu den deutschen Truppen. Auch er wurde später als glühender Verehrer des Marschalls Antonescu zu lebenslanger Haft verurteilt und im August 1964 wie sein Bruder begnadigt. Zur Familie gehörte auch die 16-jährige Tatjana, eine Nichte von Frau Ionescu. Sie war Halbwaise und ihr Vater, ein Rechtsanwalt, hatte wenig Zeit für sie. Was mir besonders an ihr gefiel, war ihre dauernde Fröhlichkeit und Freundlichkeit. Der kleine Dinu, an den ich mich jetzt wieder genau erinnerte, war eigentlich auch ein fröhlicher Junge, weinte jedoch still vor sich hin, wenn von seiner Mutter die Rede war. In solchen Augenblicken kümmerte sich Tatjana rührend um ihn. Wie ich nach einiger Zeit erfuhr, hatte sich seine Mutter vor über einem Jahr mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Über seinen Vater wurde während meiner gesamten Anwesenheit in der Familie nicht gesprochen.

„ Sie sind also der kleine Dinu! Jetzt erinnere ich mich wieder ganz genau an Sie. Erzählen Sie mir bitte von sich! Ich bin ganz neugierig.“

„Mein Großvater Ovidiu Ionescu war ein bekannter Bukarester Arzt und wie seine wesentlich jüngeren Brüder Lulu und Titi ein glühender Verehrer von Ion Antonescu, den er auch mehrfach ärztlich betreut hat. Meine Großmutter war eine Nichte des Fürsten Stirbei und gehörte demnach zum rumänischen Hochadel. Sie hatten drei Kinder: meinen Vater Traian und zwei Töchter, Tante Zoe und Tante Elena. Die Tanten habe ich nie kennengelernt, denn sie starben beide Ende der 50-er Jahre, die eine an Leukämie, die andere an Diphtherie. Mein Großvater hat die kommunistische Umwälzung nicht mehr erlebt. Er starb 1945 an einer Blutvergiftung. Meine Großmutter emigrierte nach Paris, wo sie 1954 auch starb. Mein Vater war, sicher zum Leidwesen meines Großvaters, schon als Schüler der Eisernen Garde beigetreten.“

Die Eiserne Garde war eine faschistische und antisemitische Bewegung bzw. politische Partei mit ca. 250.000 Mitgliedern und damit die drittgrößte faschistische Bewegung in Europa. Ihre Besonderheit war ihre fundamentalistisch-orthodox-religiöse Ausrichtung. Gegründet wurde sie 1927 von Zelea Codreanu unter dem Namen ‚Legion des Erzengels Michael‘, weswegen ihre Mitglieder auch Legionäre genannt wurden. Sie entwickelte sich von etwa 1933 bis 1938 zur Massenbewegung, bevor unter der autoritären Königsdiktatur Carols II. eine massive Repression einsetzte, der zahlreiche Führungsmitglieder zum Opfer fielen, unter anderem Codreanu selbst. Von Anfang Juli 1940 bis Anfang September 1940 beteiligte sich die Eiserne Garde erstmals an einer rumänischen Regierung; am 3. September 1940 versuchte sie unter ihrem nunmehrigen Führer Horia Sima einen Putsch gegen Carol II., der in dieser Lage General Ion Antonescu am 4. September zum Ministerpräsidenten mit unbeschränkten Vollmachten ernannte. Mit der Unterstützung der Eisernen Garde zwang Antonescu Carol II. am 6. September zum Thronverzicht und errichtete ein totalitäres „nationallegionäres“ Regime, das Rumänien fest an die Seite der Achsenmächte führte. Als die Eiserne Garde im Januar 1941 auch gegen Antonescu zu putschen versuchte, kam es zum Bruch mit dem „Staatsführer“, der die Bewegung nach der blutigen Niederschlagung des Aufstandes verbot und rigide verfolgte. Die Führungsriege der Garde floh nach Deutschland. Horia Sima errichtete im Auftrag der Nationalsozialisten von August 1944 bis Mai 1945 in Wien eine rumänische Exilregierung. Von dort floh er nach Spanien, wo er versuchte, die legionäre Bewegung fortzuführen.

„ In der Phase der nationallegionären Regierung gehörte mein Vater trotz seiner Jugend, er war erst 18 Jahre alt, zur engeren Entourage des Führers Horia Sima. Beim Putschversuch der Legion im Januar 1941 tat er sich als besonders rabiater Schläger hervor. Ob er auch Tote auf dem Gewissen hatte, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Nach der Niederschlagung des Putsches floh er mit Horia Sima nach Deutschland und gehörte auch der kurzlebigen Exilregierung in Wien an. 1946 kehrte er auf verschlungenen Wegen nach Rumänien zurück und schloss sich den Partisanen in den Südkarpaten an.“

Dort und in anderen unzugänglichen Regionen hatten sich mehrere Widerstandsgruppen verschanzt und leisteten bis Ende der 50er Jahre mit abnehmendem Erfolg bewaffneten Widerstand. Es handelte sich um fahnenflüchtige Angehörige der königlichen Armee, die sich gegen den Frontwechsel vom 23.08.1944 wandten, versprengte deutsche Soldaten, Angehörige der Eisernen Garde, aber auch Intellektuelle und Studenten sowie andere antikommunistische Widerstandsgruppen. Unterstützt und versorgt wurden sie von der bäuerlichen Bevölkerung der umliegenden Dörfer sowie den Schafhirten, die in der warmen Jahreszeit ihre Herden in den hochgelegenen Gebirgsregionen weideten.

„1947 stellte er sich den Sicherheitskräften und bot sich als Informant über die Stellungen und Nachschubwege der Partisanen an. Er gehörte zu den wenigen, die diesen Weg gegangen sind. Viele seiner Gesinnungsgenossen zogen es vor, entweder unterzutauchen oder ihre Identität zu wechseln. Die meisten von ihnen aber wurden verhaftet und standrechtlich erschossen oder sie erhielten hohe Haftstrafen. Nicht wenige von ihnen, wie auch Bauern und Hirten, die die Partisanen unterstützt hatten, wurden von meinem Vater denunziert. Er sicherte sich dadurch nicht nur seine Freiheit, sondern verschaffte sich durch diesen Verrat sehr schnell auch das Entree in die Securitate, wo er dann eine steile Karriere machte. Protektion erfuhr er durch den damaligen Ministerpräsidenten Petru Groza, der vor dem Krieg Patient meines Großvaters gewesen war. Er war es auch, der meinem Vater riet, sich der Securitate anzuschließen.“

Groza war ein Grandseigneur, hochgebildet und mehrsprachig, aber durch und durch korrupt und skrupellos. Vor dem Krieg gehörte er zu den reichsten Männern Siebenbürgens. Er hatte mehreren Parteien angehört, mehrere Regierungsämter wahrgenommen und sich dadurch ein riesiges Vermögen angeeignet. Aus einer Laune heraus hatte er dann, obwohl er Großgrundbesitzer war, eine bäuerlich-proletarische Splitterpartei namens Frontul Plugarilor (die Front der Pflüger) gegründet, die er nach dem Krieg infolge seines guten Gespürs für die Zeitläufe der Kommunistischen Partei als deren Satellitenpartei zuführte. 1948 ist sie dann auch in der Kommunistischen Partei aufgegangen.

„In der Securitate machte nun mein Vater sehr schnell Karriere. Er etablierte sich endgültig in ihren Strukturen während der Prozesse gegen Ana Pauker, Teohari Georgescu und Vasile Luca, bei deren Vorbereitungen er eine Menge erfolgreicher Verhöre durchgeführt haben soll.“

Diese ausgewiesenen Stalinisten waren gleich nach Kriegsende aus Moskau nach Rumänien geschickt worden, um die Macht zu übernehmen. Sofort besetzten sie Schlüsselämter und galten als Stalins Statthalter in Rumänien. Sie waren auch verantwortlich für die Hinrichtung des hochgebildeten Nationalkommunisten Lucretiu Patrascanu. Als nun der Parteichef Gheorghe Gheorghiu Dej, der sich in der Verfolgungszeit nicht nach Moskau abgesetzt hatte, sondern viele Jahre eingekerkert war, selbst einen nationalkommunistischen Kurs ansteuerte, wurden die sogenannten Moskowiter in groß angelegten Schauprozessen abgeurteilt und aus dem öffentlichen Leben entfernt.

„Weitere Meriten verdiente sich mein Vater Ende der 50er Jahre während der Prozesse gegen die deutsche Minderheit. Da er hervorragend Deutsch sprach, und es zum Teil um angeblich subversive Literaturinterpretationen ging, war er an der richtigen Stelle.“

Die wichtigsten Prozesse waren der Schwarze-Kirche-Prozess, der sich vor allem gegen den Kronstädter evangelischen Stadtpfarrer Konrad Möckel richtete, und der Prozess gegen bekannte deutsche Schriftsteller, unter ihnen Hans Bergel, Andreas Birkner, Georg Scherg, Wolf Aichelburg, Eginald Schlattner u.a. Ihnen wurde unter anderem Konterrevolution und Untergrabung der sozialistischen Ordnung vorgeworfen.

„Nach dem Tode von Petru Groza lehnte sich meinVater an einen anderen Grandseigneur an, nämlich an den späteren langjährigen Ministerpräsidenten Ion Gheorghe Maurer. Die Verbindung hielt auch nach dessen Rückzug aus dem öffentlichen Leben an, denn Maurer hat auch danach noch aus dem Hintergrund viele Fäden gezogen.
Mein Vater war ein äußerst attraktiver Mann und hatte dank seiner vielfältigen Sprachkenntnisse, er sprach fließend Deutsch, Französisch und Englisch, Russisch sprach er nur lückenhaft, ein kosmopolitischesAuftreten, was viele Frauen anzog. 1958 heiratete er meine Mutter Elisabeta Bibescu. Sie entstammte einer Seitenlinie der Fürstenfamilie Bibescu und arbeitet als Lektorin in einem Kunstverlag. Die meisten ihrer Verwandten lebten in der Emigration. Ich wurde 1959 geboren und blieb ihr einziges Kind. Ihr gegenüber hat mein Vater seine tatsächliche Tätigkeit verschwiegen. Er hat sie im Glauben gelassen, er arbeite dank seiner Sprachkenntnisse als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Außen- und im Innenministerium. Als sie durch einen Zufall 1964 von seiner tatsächlichen Tätigkeit erfuhr, hat sie ihn zur Rede gestellt, worauf er nur mit zynischen Bemerkungen in kommunistischem Jargon reagiert hat. Dieses und seine laufenden Affären haben meiner Mutter so zugesetzt, daß sie allmählich schwermütig geworden ist und sich 1967 das Leben genommen hat. Dies scheint aber meinen Vater nicht bekümmert zu haben, denn er hatte sofort eine Affäre nach der anderen. Diverse Frauen gingen auch in meiner Anwesenheit im Hause ein und aus. Deshalb war ich auch viel lieber bei meinem Großonkel Lulu. Wenn er in dieser Zeit mit mir sprach, fragte er mich immer wieder über meinen Großonkel und seine Besucher aus. Auch über Sie hat er mich wiederholt ausgefragt. Er wollte beispielsweise wissen, ob Sie Verwandten- oder Mädchenbesuche bekommen hätten. Einmal fragte er gezielt, ob nicht vielleicht eine Russin bei Ihnen gewesen sei.“

Bei diesem Satz wurde ich ganz hellhörig. Ich hatte nämlich tatsächlich eine Zeit lang eine Liebesaffäre mit einer Studentin aus Minsk. Sie war eine Polin, deren Vater Professor für Botanik an der Universität in Minsk war, und studierte in Bukarest Romanistik und Germanistik. Wir trafen uns sehr oft, meistens im Park Cismigiu. Eins Tages kam sie nicht zum vereinbarten Termin, was mich sehr beunruhigte. Als ich mich in dem Studentenwohnheim, wo sie untergebracht war, nach ihr erkundigte, erhielt ich die Auskunft, sie sei abgereist und komme auch nicht mehr zurück. Ich habe trotz mehrfacher Versuche nie wieder etwas über sie in Erfahrung bringen können. Der Gedanke, dass ihre Abberufung eventuell auf ihren Kontakt zu mir zurückzuführen war, hat mich lange Zeit gequält. Ich habe ihn schließlich verworfen, aber nach der letzten Aussage von Herrn Dinu Ionescu scheint mir diese Möglichkeit nicht mehr ausgeschlossen zu sein, denn sogenannte Westkontakte waren für Sowjetbürger streng verboten. Für Rumänen waren sie lediglich meldepflichtig.

„In der Schule hatte ich keine Schwierigkeiten. Zwar war ich wie alle Schüler auch bei den Pionieren, in die kommunistische Jugend trat ich aber trotz massiven Drucks nicht ein. Dies führte zu heftigen Auseinandersetzungen mit meinem Vater. Als ich ihm bei einer solchen Gelegenheit bedeutete, ich wolle nicht ein solch gewissenloser Opportunist werden wie er, sprach er wochenlang kein Wort mehr mit mir. Für eine Sache bin ich ihm aber bis heute dankbar: Er hat dafür gesorgt, dass ich von klein an Privatunterricht in deutscher Sprache erhalten habe. Als ich nach meinem Bakkalaureat (Abitur) mein Medizinstudium in Klausenburg antrat, sprach ich fast perfekt Deutsch und verkehrte auch meistens nur mit Studenten der deutschen Minderheit. Vom Militärdienst wurde ich zunächst freigestellt, dafür hatte auch mein Vater im Hintergrund gesorgt. In Klausenburg wendete ich mich nun innerlich völlig von ihm ab und wollte mit ihm eigentlich überhaupt nichts mehr zu tun haben. Da in mir aber inzwischen der Gedanke gereift war, das Land zu verlassen und im Westen ein neues Leben zu beginnen, wandte ich mich im Jahre 1981mit schlechtem Gewissen ein letztes Mal an ihn und bat ihn, mir zu helfen, an einem Kongress für junge Mediziner in München teilnehmen zu können. Er versprach mir, mit dem Ministerpräsidenten Ilie Verdet zu sprechen, was er offenbar auch getan hat, denn ich erhielt nach etwa 4 Wochen den Reisepass und die bei solchen Gelegenheiten üblichen Devisen. Bei dieser Gelegenheit wurde mir ganz klar, wie das kommunistische System funktionierte. Gleich nach ihrer Machtübernahme hatten die Kommunisten das in Rumänien seit der osmanischen Okkupation existierende System einer durchorganisierten Klientelgesellschaft übernommen und perfektioniert. Jedes Mitglied des Politbüros und in zweiter Linie des Zentralkomitees organisierte sich eine loyale Hausmacht und honorierte seine Anhängerschaft mit wichtigen Posten und profitablen Pfründen. Dem Generalsekretär oblag es nun, die Interessen dieser Clans auszutarieren und unter Kontrolle zu halten. Stürzte einer dieser Patrone, dann zerriss dessen gesamtes Netz und die Klientelen mussten sich umorientieren. Mein Vater hat dieses System meisterhaft genutzt. Anfänglich begab er sich in die Obhut von Groza, dann von Maurer, und als dessen Einfluss Anfang der 80er Jahre nachließ, lief er zum neuen starken Mann, Ilie Verdet, über. Dieser galt als enger Vertrauter von Elena Ceausescu, der sehr einflussreichen Frau des Generalsekretärs der Partei und Staatschefs Nicolae Ceausescu. Am Tag des Sturzes von Ceausescu verriet er sofort seinen Patron und lief zum neuen kommenden Mann, Ion Iliescu, über. Von diesem wurde er auch sofort mit wichtigen Funktionen honoriert. Während dessen Übergangsregierung wurde er mit der delikaten Aufgabe betraut, das riesige Vermögen der Partei, vor allem die großen Mengen an Devisen, vor dem Zugriff der staatlichen Behörden in Sicherheit zu bringen. Ob ihm dieses in Gänze gelungen ist und inwiefern er sich dabei auch persönlich bereichert hat, kann ich nicht beurteilen. Er starb Ende 1990 bei einem mysteriösen Verkehrsunfall, dessen Hintergründe bis heute nicht aufgeklärt sind. Die Todesnachricht erreichte mich erst 8 Wochen später. Ich war seinerzeit nach meiner Ankunft in München sofort nach Hamburg weiter gereist, wo ich zunächst bei entfernten Verwandten meiner Mutter unterkam. Dank meiner guten Deutschkenntnisse schloss ich sehr schnell meine medizinische Ausbildung ab und bekam auch sofort eine Anstellung in einer kleinen Privatklinik als Assistenzarzt. Ich bin der Klinik treu geblieben und bin heute deren Chefarzt. 1991 habe ich meine Frau Angelika, eine Lehrerin für Deutsch und Geschichte, geheiratet. Wir haben drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter. Tante Tatjana ist in den 80er Jahren irgendwie nach Schweden gelangt und hat dort geheiratet. Sie ist immer noch eine sehr aparte Frau, leidet aber leider unter beginnender Demenz. Mit Rumänien habe ich schon lange abgeschlossen. Nach langem Nachdenken habe ich mich aber nun doch entschlossen, noch einmal zurückzukehren und an der für den 10. August geplanten Demonstration der rumänischen Diaspora teilzunehmen. Die neue Klientelgesellschaft nimnt nämlich inzwischen dramatische Formen an und muß jeden, der noch irgendwie am Lande interessiert ist, sehr beunruhigen. Dem durch und durch korrupten und mehrfach vorbestraften Vorsitzenden der Regierungspartei ist es doch tatsächlich gelungen, die gesamte Partei unter sein Regiment zu zwingen und ist mit seinen Spießgesellen, die allesamt Korruptionsprozesse am Hals haben, dabei, alle staatlichen Organe unter Kontrolle zu bringen. Das Parlament, die Antikorruptionsbehörde, und die Justiz hat er bereits weitgehend gekapert. Ja, sogar das Verfassungsgericht steht mittlerweile in seinen Diensten. Wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, errichtet er sicher einen mafiotischen und totalitären Staat. Dann kann er mit seinen Genossen ungesühnt und sorgenfrei das Land ausplündern. Ich fürchte aber, dass die Demonstration nicht allzuviel bewirken wird. Das Land geht schweren Zeiten entgegen.“

Wir unterhielten uns noch eine Zeit lang, wobei ich ihm auch von mir erzählte. An meinen Projekten, die mich zurück in meine alte Heimat geführt hatten, zeigte er großes Interesse. Bevor wir uns verabschiedeten, sagte er: „Sie und ich sind beide Wanderer zwischen den Welten, jeder auf seine Weise.“ „Ja, wir sind Wanderer zwischen den Welten.“